"Ohrfeige" für den spanischen Fußball

Von Ben Barthmann
Atletico Madrid hält derzeit mit dem FC Barcelona Schritt
© getty

Atletico Madrid marschiert durch die spanische Liga und kann mit einem Sieg am 19. Spieltag der Primera Division gegen den FC Barcelona sogar die alleinige Tabellenführung erreichen. Trainer Diego Simeone setzt dabei auf schnelles Umschaltspiel und konzentrierte Defensivarbeit.

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"Atletico ist in Topform, sie haben herausragende Spieler und sind Anwärter auf die Meisterschaft und den Champions-League-Titel", gibt sich Gerardo Martino vor dem Aufeinandertreffen mit Atletico Madrid ehrfürchtig. Seit langem war der Respekt vor den Rojiblancos in Spanien nicht mehr so groß wie in der laufenden Saison.

Die Hauptstädter spielen eine unglaublich konstante Hinrunde und stehen derzeit punktgleich mit dem FC Barcelona an der Spitze der Primera Division. Trotz des Abgangs von Radamel Falcao hat man sich von einem Geheimfavoriten zu einem Titelanwärter entwickelt. Das Gesicht des Erfolges sitzt dabei auf der Bank: Diego Simeone.

"Ohrfeige für den spanischen Fußball"

Der Argentinier kehrte im Sommer 2012 zurück nach Madrid, in die Stadt, in der er bereits als Spieler lange tätig war und gab den Rojiblancos ein neues Gesicht. Aggressiv, bissig und mit großem Siegeswillen ausgestattet hat Trainer Simeone aus seiner Mannschaft ein Ebenbild des Spielers Simeone geschaffen.

Dabei greift er auf Mittel zurück, die in Spanien lange nicht mehr salonfähig waren. Ein flaches 4-4-2-System, Asymmetrie im Angriff und schnelles Umschaltspiel nach Balleroberung sind eine "kleine Ohrfeige für den spanischen Fußball", wie Getafe-Trainer Luis Garcia vor dem Spiel gegen die Rojiblancos (0:7) feststellte.

Eng und kompakt in der Defensivbewegung

Denn Atletico spielt unter Simeone nicht den ballbesitzorientierten Fußball, wie man ihn aus der Nationalmannschaft oder von anderen Repräsentanten Spaniens kennt. Viel eher verzichtet man darauf, das Spiel zu dominieren, sondern zieht sich bei gegnerischem Ballbesitz bis in die eigene Hälfte zurück. Dabei bilden sich zwei nah beieinanderstehende Viererketten, beide Mittelstürmer lassen sich bis in den Sechserraum des Gegners zurückfallen.

So macht Atletico das Spiel durch die Mitte nahezu unmöglich. Der Gegner beginnt damit, die Bälle auf die Außen zu verteilen, die bewusst ungedeckt bleiben. Damit spielt man den Madrilenen jedoch in die Karten, denn nach einem Zuspiel auf den Flügel attackieren sie plötzlich aggressiv und drängen den Ball Richtung Seitenaus.

Damit müssen kaum Zweikämpfe in der Zentrale geführt werden, sondern man kann sich voll auf die Verteidigung des Flügelspiels konzentrieren - gegen den FC Elche führten die Innenverteidiger Diego Godin und Miranda zusammen gleich viele Zweikämpfe wie Außenverteidiger Filipe alleine. So erreicht die Mannschaft von Simeone ein oft zerfahren und von vielen Ballverlusten und Einwürfen geprägtes Spiel.

Asymmetrische Umschaltbewegung

Dies nimmt Atletico jedoch bewusst in Kauf. Durch das starke Verschieben stehen teilweise bis zu sieben Spieler auf einer Seite des Spielfelds, was nicht nur die Räume für den Gegner verengt, sondern auch die eigene Umschaltbewegung erschwert - eine Tatsache, die man sich inzwischen zur Tugend gemacht hat. Nach Ballgewinn fächert man nicht auf, sondern bleibt eng im Raum stehen, um eine Seite zu überladen und sich durch numerische Überlegenheit Chancen zu erspielen. Lässt sich diese nicht herstellen, wird die Seite verlagert und ein schneller Angriff initiiert.

Beispiel Atletico Madrid - FC Getafe 7:0 (2:0): Atletico erobert auf der linken Seite den Ball. Sechs Spieler stehen in der linken Spielfeldhälfte, der rechte Spielfeldrand ist verweist. Getafe hat jedoch ebenfalls verschoben, die Rojiblancos konnten keine Überlegenheit herstellen, weshalb der ballführende Spieler zurück in die Abwehr passt, von wo aus das Spiel auf den rechts ungedeckten Juanfran verlagert wird.

Rechtsverteidiger Juanfran beackert die rechte Seite oft alleine, Atletico zieht bewusst nach links, um den Raum auf der rechten Seite zu öffnen. Gegen den FC Valencia zeigte sich dies eindrucksvoll. Nur Juanfran und der rechte Innenverteidiger Miranda standen durchschnittlich in der rechten Hälfte des Spielfelds, die restlichen acht Spieler tendierten nach links. Dennoch verteilten sich die Angriffe nahezu gleich auf beide Seiten - die Außenverteidiger schlugen ähnlich viele Flanken (6 von links, 5 von rechts).

Kurzes Gegenpressing nach Ballverlusten

Diese Herangehensweise ist jedoch auch gleichzeitig die größte Schwäche der Rojiblancos. Schafft es der Gegner, nach einem Ballverlust der Simeone-Mannschaft schnell den Flügel zu verlagern, entstehen große Lücken in der Defensivbewegung. Die Außenverteidiger stehen sehr hoch, die Räume hinter ihnen sind geöffnet, ein Großteil der Mannschaft befindet sich auf einer Seite des Spielfeldes und bekommt keinen Zugriff.

Beispiel FC Elche - Atletico Madrid 0:2 (0:0): Durch das extreme Verschieben Atleticos ergibt sich in der durchschnittlichen Positionierung eine Überlappung aller vier Offensivkräfte. Juanfran hielt sich gegen die offensiv ausgerichtete linke Seite aus Edu Albacar und Fidel zurück, dafür orientierte sich Filipe weiter nach vorne.

Deshalb setzt Atletico ein ähnliches Gegenpressing um, wie es der FC Barcelona unter Pep Guardiola spielte. Nach einem Ballverlust wird kurz, aber sehr aggressiv nachgesetzt, notfalls ein Foul gezogen, um einen befreienden Ball zu verhindern. Gelingt dies nicht, wird es meist gefährlich, schließlich sind die Innenverteidiger oft auf sich alleine gestellt. Gelingt es allerdings und der Ball kann erobert werden oder es kommt zu einer Spielunterbrechung, zieht sich Atletico wieder in das 4-4-2 zurück und erwartet den nächsten Angriff.

Die Genialität von Diego Costa

Der Spieler, der diesen Kreislauf immer wieder durchbricht ist Diego Costa. Der Stürmer ist nicht nur dank seiner enormen Treffsicherheit ein wichtiger Bestandteil im Puzzle von Simeone, sondern agiert auch auf einem individualtaktisch unglaublich hohen Niveau. Dabei stechen besonders zwei Aspekte heraus, die Costa gleichzeitig zu einem der besten Offensiv- als auch Defensivspieler Atleticos machen.

Der 25-Jährige erkennt Spielsituationen, in denen das Herausrücken aus der Formation einen Ballgewinn verspricht und läuft seinen Gegenspieler plötzlich an. Dabei achtet er jedoch darauf, durch sein Ausbrechen keine Lücke zu hinterlassen, sondern setzt seinen Körper bewusst ein, um die Anspielstationen im Deckungsschatten zu halten und erzwingt so diverse Ballverluste oder schlampige Pässe. Diese ermöglichen der nachgerückten Mannschaft wiederum Zugriff auf den Spielaufbau des Gegners und den Ball in gefährlichen Positionen zu erobern.

Auch in der Offensive verlässt Costa immer wieder das vorgegebene System und setzt zu Tiefensprints in den Raum zwischen beiden Innenverteidigern oder zwischen Innen- und Außenverteidiger an. Damit reißt er einerseits Lücken und kann Verteidiger aus einem Raum ziehen, was wiederum für numerische Überlegenheit seiner Mannschaft sorgt. Andererseits ist er auch in der Lage, einen auf ihn gespielten Ball exzellent zu behaupten und weiterzuleiten - eine Spielweise, die an Robert Lewandowski erinnert.

"Nicht gewalttätig, nicht unaufrichtig, aber provokant"

"Ich bin nicht gewalttätig, nicht unaufrichtig, aber provokant", erklärte Costa gegenüber der "Marca" und traf damit und mit seiner nächsten Aussage die Herangehensweise Atleticos auf den Kopf: "Die Leute glauben, dass sie aufgrund meines Temperaments einen Platzverweis provozieren können, aber im Moment erhalten sie die Karten." Der Torjäger steht stellvertretend für die Spieler der Rojiblancos.

Die aggressive, enorm bissige Spielweise ist immer eng an der Grenze des Erlaubten. Die Mannschaft von Simeone sammelt durchschnittlich drei Gelbe Karten pro Spiel, insgesamt zückt der Schiedsrichter fast siebenmal den Gelben Karton. Die Spieler Atleticos verfügen über ein enormes Spielverständnis, verzögern das Spiel in den richtigen Momenten, nehmen das Tempo heraus, ziehen Fouls oder foulen selbst. Sie machen das Spiel teilweise bewusst hektisch, erkennen sie die richtige Situation dafür.

Immer am Rande der Legalität reihen sich die Hauptstädter in der Fair-Play-Statistik neben den Vereinen aus dem Tabellenkeller ein. Jose Mourinho nannte sie vor dem Copa-del-Rey-Finale 2013 die "vielleicht am schwierigsten zu spielende Mannschaft", letztlich setzte es zehn Gelbe Karten, zwei Platzverweise und die Verbannung des Portugiesen auf die Tribüne. Jedoch: Diego Simeone und Atletico Madrid sicherten sich nach vier Gelben Karten aufgrund von Zeitverzögerung einen 2:1-Sieg nach Verlängerung. Es war der erste nationale Titel der Rojiblancos seit 1996.

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