Wunderkind aus der Ecke des Teufels

Von Daniel Reimann
Alexis Sanchez wechselte in der Sommerpause von Udinese zum FC Barcelona
© Getty

In den Gassen seines Heimatviertels schwor sich Ex-Udinese-Angreifer Alexis Sanchez einst, der beste Fußballer der Welt zu werden. Heute ist er oft schwerer zu stoppen als Lionel Messi und tritt bei Barcelona das Erbe von Ronaldo und Co. an. Nun plant das "Wunderkind" seinen Angriff auf Barcas 95-Tore-Trio und könnte sich blitzschnell in die Herzen der Fans schießen.

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Tocopilla bietet keinerlei viel versprechende Perspektiven. Das 24.000-Seelen-Städtchen im Norden Chiles ist vor allem eine Hochburg der Fischindustrie und des Kupferbergbaus. Wer dort geboren wird, endet meist im Fischereigeschäft oder als Minenarbeiter.

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Die soziale Armut und eine hohe Arbeitslosigkeit zwingen die Einwohner oftmals zur Abwanderung, Alkohol- und Drogenabhängigkeit ist in den Armenvierteln nicht selten der letzte Ausweg. Nicht ganz zu Unrecht wird die Hafenstadt auch "Ecke des Teufels" genannt.

Bis vor ein paar Jahren kannte man Tocopilla höchstens als Geburtsstadt des Regisseurs und Autors Alejandro Jodorowsky oder aufgrund des verheerenden Erdbebens aus dem Jahre 2007.

Jener Jodorowsky hatte bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht und Filme gedreht, als sich ein kleiner Junge, einen alten Gummiball durch die verstaubten Gassen von Tocopilla bolzend, in den Kopf setzte, Profifußballer zu werden. Genauer gesagt: Der beste Profifußballer der Welt.

"Ich werde es weit bringen"

Während seine Mutter von früh bis spät als Hausangestellte ackerte oder Fische putzte, entdeckte der kleine Alexis Sanchez seine Liebe zum Fußball. "Der Fußball half mir immer, mit Problemen klarzukommen und auch in schwierigen Zeiten glücklich zu sein", erzählt er rückblickend. Er wuchs ohne Vater, dafür aber mit drei Geschwistern in einer bescheidenen Lehmhütte auf. Seine größte Freude war das runde Leder.

Der verhalf ihm neben der Freude auch zu ungekannter Aufmerksamkeit. Juan Segovia, Sanchez' damaliger Lehrer und erster Trainer, verriet gegenüber "Sport.es": "Hier in Tocopilla machte sich Alexis schnell einen Namen. Wer ihn gesehen hat, merkte sofort, dass er etwas Besonderes war. Alle Klubs wollten ihn haben."

Schon früh bestach der junge Chilene durch seine Schnelligkeit und Beweglichkeit, was ihm den Spitznamen Dilla (kurz für Ardilla = Eichhörnchen) einbrachte. Auch weil immer er es war, der die verlorengegangenen Bälle wieder von den Bäumen holte.

Schnell war Sanchez den Kindern seiner Altersklasse weit voraus und suchte höhere Herausforderungen. "Er hat mit den Erwachsenen gespielt, er wollte etwas erreichen", erzählt Segovia. "Er hat sich gesagt: 'Ich werde es weit bringen.'" Freunden gegenüber soll er angekündigt haben, einmal "der Beste der Welt zu werden".

Vom "Eichhörnchen" zum "Wunderkind": Profi-Debüt mit 16

2003 wagte er sich bereits zum zweiten Mal auf zu neuen Ufern, das Ziel Profifußballer immer im Blick. Sein erster Versuch, als 8-Jähriger im Sinne des Fußballs die Heimat hinter sich zu lassen und im 1300 Kilometer entfernten Rancagua eine Fußballschule zu besuchen, war nach nur zwei Jahren gescheitert.

Doch diesmal passte alles: In Calama beim Verein CD Cobreloa reifte er außergewöhnlich schnell. Er begann ein völlig neues Leben, konzentrierte sich ausschließlich auf den Fußball und debütierte im Alter von 16 Jahren in der ersten Mannschaft. Ein Jahr später kannte man ihn in ganz Chile. Er war berühmt für seine Fähigkeit, jedem noch so wachsamen Verteidiger entwischen zu können.

Alsbald bekam das "Eichhörnchen" einen deutlich wertvolleren Spitznamen. Sanchez war künftig "El Nino Maravilla" - das Wunderkind. Und als solches weckte er langsam auch in Übersee großes Interesse.

Durchbruch in Europa und das 4-Tore-Spektakel

Rund ein Jahr nach seinem Debüt sicherte sich Udinese die Dienste des damals 17-Jährigen für drei Millionen Euro. Doch statt das Supertalent noch in jungen Jahren bereits nach Europa zu holen, entschied sich der Verein aus Norditalien, Sanchez zunächst in Südamerika reifen zu lassen. Eine weise Entscheidung.

Nach zwei Jahren, in denen er bei Colo Colo und trotz einer dreimonatigen Verletzungspause auch bei River Plate für Begeisterung sorgte, wagte er den endgültigen Schritt nach Übersee. Einer durchschnittlichen Einführungssaison 2008/2009, in der er lediglich fünf Ligaspiele über 90 Minuten bestritt, folgte ein starker Schlussspurt ein Jahr später (vier Tore in den letzten sieben Ligaspielen).

Teamkollege Gökhan Inler prophezeite ihm schon damals im SPOX-Interview eine grandiose Zukunft: "Ich will ihn nicht mit Cristiano Ronaldo vergleichen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass er genauso groß werden kann."

Und schon in der darauffolgenden Spielzeit gelang der endgültige Durchbruch. Unvergessen: Sanchez' Gala-Auftritt beim 7:0 in Palermo. Bis zu seiner Auswechslung in der 53. Minute netzte er sagenhafte vier Mal ein und wurde fortan noch mehr mit Lob überhäuft. Im Juni holte Trainer Francesco Guidolin im SPOX-Interview weit aus: "Alexis wird einer der besten Spieler der Welt, in Kürze wird er in die Riege der Top Ten aufsteigen. In zentraler Position zwischen Angriff und Mittelfeld ist er nicht zu kontrollieren. "

"Endlich habe ich mir meinen Traum erfüllt"

Nachdem sich Europas Top-Klubs schon nach der WM 2010 um den Shootingstar aus Chile bemühten, er aber von den Udine-Verantwortlichen bis Juni 2011 für "unverkäuflich" erklärt wurde, bliesen die Spitzenvereine nach Saisonende endgültig zum Angriff auf Alexis Sanchez.

Europas Transfer-Blockbuster: Alexis Sanchez und Co.

Der wollte unbedingt nach Spanien und entschied sich letztlich für den FC Barcelona. Für 26 Millionen Euro plus eventuelle Zusatzzahlungen in Höhe von 11,5 Millionen wechselte Sanchez die Seiten.

"Endlich habe ich mir meinen Traum erfüllt", sagte er überglücklich bei der Präsentation.

Schon am Flughafen wurde er frenetisch empfangen (Video) und bereits vor seiner Unterschrift mit Vorschusslorbeeren überhäuft.

Seine Vorgänger: Ivan der Schreckliche und Ronaldo

Der "chilenische Messi" tritt in Spanien gleich in mehrfacher Hinsicht ein traditionsreiches Erbe an. Als erster Chilene im Barca-Trikot soll er es seinem wohl erfolgreichsten Landsmann in der Primera Division, Ivan - dem "Schrecklichen" - Zamorano, nachmachen.

Jener Zamorano wurde in der Saison 1994/1995 beim Erzrivalen Real Madrid Torschützenkönig. Besonders spektakulär: Er schoss sich mit einem Hattrick beim 5:0-Sieg über Barcelona in die Geschichte des spanischen Fußballs und für immer in die Herzen der Real-Anhänger.

Zudem wird sich Sanchez das Barca-Dress mit der Rückennummer 9 überstreifen und tritt damit unter anderem in die legendären Fußstapfen von Ronaldo, Patrick Kluivert oder Samuel Eto'o.

Allerdings auch in die von Supertalent Bojan Krkic, der als mahnendes Beispiel dafür dient, dass nur herausragende Begabung keinen Stammplatz garantiert.

Sprengt Sanchez das 95-Tore-Trio?

Jener Bojan Krkic kam im Schatten von Messi, Villa und Pedro, die in der vergangenen Saison gemeinsam sagenhafte 95 Pflichtspieltreffer erzielten und als "MVP"-Trio gefeiert wurden, immer seltener zum Einsatz und wechselte jüngst zum AS Rom.

An Messi wird, wenn er fit ist, nie ein Weg in der Sturm-Reihe vorbeiführen. Also muss sich Sanchez mit Villa und Pedro um die zwei verbleibenden Plätze in der Offensive streiten.

Pikant: In Sanchez' jüngster Super-Saison bei Udine lief er in Guidolins 3-5-2-System in der Sturmzentrale leicht versetzt hinter Antonio Di Natale auf. Coach Guidolin meinte im SPOX-Interview, dass er erst in dieser Rolle "herausragend wurde".

Schwerer zu stoppen als Lionel Messi

Für Trainer Pep Guardiola bedeutet dies in Zeiten der Dreifachbelastung durch Liga, Pokal und Champions League wertvolle Rotationsmöglichkeiten.

Auch er lobte Sanchez bereits über den grünen Klee: "Er wird uns viel Freude bereiten, schon in seiner ersten Saison. Ich schätze seine Hartnäckigkeit. Er gibt keinen Ball verloren und geht verbissen in jeden Zweikampf. Wenn er Geschwindigkeit aufnimmt, ist er kaum zu halten", so der Barca-Coach.

Wie recht Guardiola damit hat, lässt sich mit einer beeindruckenden Statistik unterstreichen: In der vergangenen Saison wurde Sanchez laut "Sport.es" nahezu alle 20 Minuten gefoult, weil er offensichtlich nicht mehr mit fairen Mitteln vom Ball zu trennen war.

Zum Vergleich: In der Primera Division wäre dies der Spitzenwert gewesen. Ein Lionel Messi beispielsweise wurde in der zurückliegenden Spielzeit "lediglich" alle 53 Minuten regelwidrig gestoppt.

Supercopa: Debüt gegen Real?

Schon dies deutet an, wie gut Sanchez ins Spiel der Katalanen passen könnte. Er vereint wie kaum jemand Schnelligkeit, Beweglichkeit und Kraft so effektiv wie der bullige und zugleich wieselflinke Sanchez. Auch er ist, wie so viele bei Barcelona, ein Instinktfußballer.

Außerdem hat er sich längst von seiner vermeintlich größten Schwäche, der Eigensinnigkeit, verabschiedet, wie er selbst schwört: "Man sagt, ich sei ein Individualist. Doch ich versuche nur, für Gefahr zu sorgen. Vielleicht habe ich den Ball manchmal zu lange behalten und wurde gefoult. Doch ich habe gelernt, die richtigen Momente dafür auszusuchen und mich gebessert", so der 22-Jährige, der in Udine auch mit den Außenspielern Maurizio Isla und Pablo Armero bestens harmonierte.

Einen ersten Vorgeschmack könnte Sanchez bereits im Hinspiel der Supercopa bei Real Madrid liefern. Angeblich wünscht sich Guardiola, dass der Chilene schon für die Partie im Bernabeu bereitsteht, da Ibrahim Afellay mit Muskelfaserriss ausfällt.

So könnte sich Sanchez gleich beim Debüt für den warmen Empfang in Katalonien bedanken. Denn wie kann man sich in Spanien einfacher in die Herzen der Fans schießen, als mit einem Tor gegen den Erzrivalen? Nachzufragen bei Ivan dem Schrecklichen...

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