"Deutschland höher einzuschätzen als Spanien"

SID
Kevin Kuranyi beendete die Saison mit Dynamo Moskau auf Platz vier
© Getty

Kevin Kuranyi brach im Sommer 2010 seine Zelte in Deutschland ab und spielt nun für Dynamo Moskau in Russland. In seiner SPOX-Kolumne berichtet der 30-Jährige regelmäßig von seinen Erlebnissen im fernen Russland. Diesmal zieht Kuranyi ein Fazit zur abgelaufenen Saison und spricht über fehlende Harmonie sowie den großen Aufsteiger Zvjezdan Misimovic. Außerdem: sein EM-Ausblick auf Deutschland und Russland.

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Priwet is Moskwi!

Ehrlich gesagt ist die Anrede diesmal ein wenig geschwindelt. Bin nämlich seit ein paar Tagen in Italien - und werde mir dort auch das Champions-League-Finale anschauen. Natürlich drücke ich den Bayern die Daumen. Erstens, weil ich im Europapokal immer auf Seiten der deutschen Mannschaften bin.

Zweitens, weil ich meinem Freund Mario Gomez nur das Allerbeste wünsche. Er ist ein überragender Typ und ein Weltklasse-Stürmer. Wenn ich mir ein Szenario ausdenken dürfte, dann eines, indem er die entscheidenden Tore schießt. Und drittens kicken neben Mario noch ein paar weitere Spieler, die ich gut kenne und mag. Also Jungs, auch von dieser Stelle nochmal: Gas geben und den Pott holen!

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Haben uns wie Verlierer gefühlt

Vielleicht sollte ich euch kurz erzählen, wie unsere Saison lief. Das war am Schluss ein wenig seltsam. Wir haben uns wie Verlierer gefühlt - dabei hatten wir unser Ziel erreicht.

Der Grund: Wir waren erfolgreicher, als viele erwartet hatten. Im Pokal haben wir es bis ins Finale geschafft. Und in der Liga haben wir viele Monate um Platz zwei mitgespielt. Selbst vor dem letzten Spieltag hatten wir noch eine kleine Chance auf Rang zwei und die Champions League.

Aber leider haben wir dann das Finale gegen Rubin Kasan zu Recht mit 0:1 verloren. Und in der Liga waren wir am Ende Vierter. Doch um das richtig einzuordnen, muss man sehen, wo wir herkommen. Als ich vor zwei Jahren hierher wechselte, stand Dynamo im Mittelfeld der Tabelle, jenseits von Gut und Böse.

Fehlende Harmonie

Am Ende wurden wir damals Siebter. Vor dieser Saison war dann Platz fünf das Ziel. Das hatten wir vorzeitig erreicht. Dazu das Pokalfinale - unter dem Strich ist es eine klasse Spielzeit für uns gewesen.

Vielleicht hat zu einer überragenden Saison am Ende auch etwas die Harmonie gefehlt. Seit der Winterpause war es ein wenig unruhiger als sonst, nachdem unser Trainer Sergej Silkin die Mannschaft etwas umgebaut hatte. Dadurch haben Andreij Woronin und phasenweise auch Igor Semschow ihren Stammplatz verloren.

Beide Nationalspieler, zudem bei uns Kapitän und Stellvertreter. Irgendwie also auch nicht verwunderlich, dass das Ganze nicht geräuschlos von statten ging. Ich habe dabei von Anfang an die Meinung vertreten, dass wir mit unserem Trainer sehr viel erreicht haben und die Mannschaft als gesamtes wichtiger ist als jeder einzelne Spieler.

Misimovic der große Aufsteiger

Und dass jede Art von Unruhe den Erfolg gefährdet. Vielleicht sind so ein paar wichtige Zähler auf der Strecke geblieben. Wo es sportliche Verlierer gibt, da gibt aber auch Gewinner. Und damit meine ich nicht mich - obwohl ich zugeben muss, dass es auch Auswirkungen auf mich hatte, weil ich zwischendurch Kapitän der Mannschaft war.

Aber der große Aufsteiger war eindeutig Zvjezdan Misimovic. Er hat seine Chance bekommen und diese auch genutzt. Zvjezdan hatte ja keinen einfachen Start hier. Aber in den letzten Monaten ist er endgültig angekommen - was mich riesig gefreut hat. Ich schätze ihn sehr, er ist ein überragender Fußballer und ein toller Mensch. Wir kommen auch privat gut miteinander aus.

Ganz allgemein gesehen hat diese Saison eines gezeigt: Meister St. Petersburg ist weiter die klare Nummer eins im Land. Aber dahinter geht es sehr eng zu.

Sbornaja exzellent besetzt

Alle vier Moskauer Teams, aber auch Anschi Machatschkala und Rubin Kasan sind eigentlich auf einem Level. Für Spannung in der neuen Saison ist also gesorgt. Diese beginnt im Sommer. Hört sich für euch und mich relativ normal an. Ist für die Russen aber total außergewöhnlich. Bisher wurde hier schließlich von März bis November gespielt.

In vier Wochen geht es deshalb schon wieder los. Ganz in der Nähe. Zunächst mit einem Trainingslager in Lienz in Österreich und Mitte Juli dann mit einem Turnier in Köln bei dem unter anderem der VfB Stuttgart, der 1. FC Nürnberg und natürlich auch der 1. FC Köln mitspielen.

Bis dahin genieße ich meinen Urlaub - und schaue mir natürlich die EM an. Mit besonderem Augenmerk auf zwei Teams: Deutschland und Russland.

Die Sbornaja ist wiederum exzellent besetzt, ganz besonders solltet ihr auf Torhüter Igor Akinfejew achten, der nach schwerer Verletzung wieder fit ist. Das hat er leider auch mit einer Weltklasseparade bei einem eigentlich unhaltbaren Kopfball von mir in unserem Spiel gegen ZSKA vor ein paar Wochen bewiesen ;-).

Russland kommt ins Halbfinale

Außerdem herausragend: die Stürmer Andreij Arschawin und Alexander Kerschakow. Allgemein glaube ich, die Mannschaft ist ähnlich stark wie das Team, das bei der EM 2008 so groß aufgespielt hat. Aber die Jungs sind immer schwer einzuschätzen, weil sie jederzeit sowohl für positive als auch für negative Überraschungen gut sind.

Dennoch: sie haben die Qualität, um ganz weit zu kommen, zumal sie eine ganz machbare Gruppe erwischt haben. Mein Tipp: Sie werden den Gruppensieg holen und ins Halbfinale kommen, danach ist alles möglich.

Deutschland ist in meinen Augen die stärkste Mannschaft des Turniers. Sogar einen Tick höher einzuschätzen als Spanien. Unser Team ist erstklassig besetzt und vor allem hungrig. Ich persönlich habe mich gefreut, dass ich in einer repräsentativen Stürmer-Umfrage weit vorne gelandet bin - ohne das allzu hoch hängen zu wollen.

Aber es wäre doch albern, wenn ich nicht zugeben würde, dass solch ein Votum gut tut. Aber ich bin kein Träumer. Joachim Löw hat mir den Zwischenfall 2008 verziehen - sportlich jedoch andere Vorstellungen. Das ist sein gutes Recht. Das respektiere ich. Deshalb bin ich bei der EM vor allem eines: Fan der deutschen Mannschaft. Und ich bin mir sicher: Die Jungs holen den Titel.

Ich wünsche euch einen traumhaften Sommer - bis bald in der neuen Saison.

Euer Kevin

 

 

 

 

 

Kevin Kuranyi, geboren am 2. März 1982 in Rio de Janeiro, gehört zu den besten Stürmern Deutschlands. Von 2001 bis 2005 spielte er als Profi für den VfB Stuttgart, danach wechselte er zum FC Schalke 04. Seit Sommer 2010 trägt Kuranyi nun das Trikot von Dynamo Moskau. Für die Nationalmannschaft war er bislang 52 Mal im Einsatz. Mehr Informationen über Kevin Kuranyi gibt es unter www.kevin-kuranyi.de

Kevin Kuranyi im Steckbrief

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