Das Spiel mit der Angst: Als Fabio Quagliarella die Stalking-Hölle auf Erden erlebte

Von Dennis Melzer
Fabio Quagliarella, Neapel
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Mit dem Wechsel zum SSC Neapel ging sein Wunsch in Erfüllung. Was Fabio Quagliarella anschließend durchmachen musste, mutet an wie ein Kriminalroman.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2019 veröffentlicht

Quagliarella steht auf der Sonnenseite des Lebens, als er im Sommer 2009 einen Fünfjahresvertrag beim SSC Neapel unterschreibt. Er kehrt aus Udine zurück in seine Heimat, zu jenem Klub, für den er bereits als kleiner Junge brannte.

Zu diesem Zeitpunkt ahnt der Stürmer nicht, dass sich seine Zeit am Fuße des Vesuvs zum größten Albtraum entwickeln, er nach nur einem Jahr gezwungenermaßen weiterziehen, beim Erzrivalen Juventus anheuern und den Hass einer ganzen Region auf sich ziehen würde. Weil niemand seinen Wechsel nachvollziehen kann. Weil er die Gründe für die Flucht von seinen Liebsten nicht offenlegen kann. Quagliarella hat einen Stalker, der ihm die Hölle auf Erden bereitet - und auch vor Familie und Freunden nicht Halt macht.

Im August 2017 stimmt Quagliarella einem Interview mit Bleacher Report zu, nimmt sich Zeit, um erstmals umfassend über die unglaublichen Geschehnisse zu reden, die elf Jahre zuvor ihren Anfang nahmen.

Seit 2016 spielt Quagliarella bei Sampdoria Genua.
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Seit 2016 spielt Quagliarella bei Sampdoria Genua.

Quagliarella verschenkt unterschriebene Souvenirs

Es ist Weihnachten 2006, als er seinen besten Kumpel Giulio De Riso in dessen Laden, einem Vodafone-Shop inmitten von Castellamare di Stabia, besucht. Nebenbei lässt er fallen, dass er den Verdacht hege, jemand habe seinen PC gehackt. Zudem erhalte er immer wieder sporadisch anonyme Textnachrichten. Der Vorwurf: Er sei drogenabhängig und mit Mitgliedern der Mafiaorganisation Camorra befreundet. Ungewöhnliche Anschuldigungen, denn Quagliarella ist beliebt in der Region, die Menschen schätzen ihn für seine Bodenständigkeit. Quagliarella ist kein Spieler, der seine Urlaube social-media-wirksam in Saint Tropez, Monaco oder Dubai inszeniert. Erst recht keiner, der mit Gesetzesbrechern kooperiert.

De Riso weiß sofort, an wen er seinen Freund vermitteln muss. Er selber habe immerhin einige Monate zuvor mehrfach dubiose SMS von einem Unbekannten erhalten, der ihm die Zusammenarbeit mit der berüchtigten Camorra vorwarf. Raffaele Piccolo, der Schwager eines Bekannten, sei der richtige Ansprechpartner für derartige Probleme. Er arbeitet bei einer Sonderkommission der neapolitanischen Polizei, die auf Cyberkriminalität spezialisiert ist.

Piccolo ist sofort bereit, Lokalmatador Quagliarella zu unterstützen. "Nachdem er sich meinen Computer angesehen hatte, haben wir uns angefreundet", sagt Quagliarella. Die beiden tauschen Telefonnummern aus. Um seine Dankbarkeit zu zeigen, schenkt Quagliarella Piccolo einige von ihm unterschriebene Souvenirs. Kurz darauf ebben die anonymen Nachrichten ab.

Quagliarellas emotionale Rückkehr nach Neapel

Als Quagliarella zweieinhalb Jahre später für eine Ablösesumme von 18 Millionen Euro von Udinese Calcio zu Napoli wechselt, ist die fußballverrückte Metropole außer sich. Der verlorene Sohn, der immer von einem Engagement bei den Partenopei geträumt, bislang aber nie für sie gespielt hatte, kommt unter Jubelarien der Fans nach Hause. "Wir waren so glücklich", sagt ein Camorra-Mitglied, das namentlich nicht genannt werden möchte, gegenüber Bleacher Report und schiebt nach: "Wir waren sehr emotional, weil er ein Kind dieser Stadt ist, ein Kind neapolitanischen Bodens."

Quagliarellas Freund De Riso denkt gerne an den Tag der Verkündung zurück: "Jeder hier hat davon geträumt und Fabio freute sich wie ein Kind. Er war so unglaublich glücklich."

Quagliarella lässt den Sommer 2009 so Revue passieren: "Ich wusste um die Bedeutung meines Wechsels. Die Napoli-Fans haben sich selbst in mir gesehen. Ich wusste, dass ich niemals alleine sein werde, wenn ich den Platz betrete. Ich hatte eine ganze Stadt im Rücken." Tatsächlich widmen die Tifosi ihrem neuen Helden sofort einen eigenen Song, die Zeitungen überschlagen sich, vergleichen ihn mit Masaniello, dem legendären Anführer des Volksaufstandes in Neapel im 17. Jahrhundert. Er zahlt den Hype zurück, küsst nach jedem Tor symbolträchtig das SSC-Logo.

Im Sommer 2009 unterschrieb Quagliarella einen Fünfjahresvertrag beim SSC Neapel.
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Im Sommer 2009 unterschrieb Quagliarella einen Fünfjahresvertrag beim SSC Neapel.

Fernab des Ruhms, neben dem Platz, fühlt sich Quagliarella schnell nicht mehr ganz so unbeschwert. Seit er in Neapel ist, wird er mit ganz ähnlichen anonymen Mails und Textnachrichten bombadiert, die ihn bereits zu seiner Zeit in Udine erreicht hatten - nur in deutlich höherer Schlagzahl.

De Riso gerät ebenfalls erneut ins Visier. "Wir bekamen kryptische Nachrichten, die lediglich aus Nummern und Buchstaben bestanden: ABC 37 12. ABCD 37 27 12. Sie sahen aus wie irgendwelche Codes", erklärt De Riso und ergänzt: "Piccolo hat gesagt, dass es sich dabei wahrscheinlich um Viren handelt, die unsere privaten Daten stehlen könnten. Also forderte er: 'Gebt mir eure Mobiltelefone und ich werde sie davon bereinigen.'" Piccolo versichert, dass er im Polizeirevier eine Anzeige schreiben wird. Aus Verbundenheit organisiert Quagliarella immer wieder Tickets, manchmal schenkt er Piccolo unterschriebene Trikots. Als Quagliarella seine Handynummer ändert, reißen die Nachrichten ab. Vorerst.

Quagliarellas Eltern erhalten Briefe mit schockierendem Inhalt

Statt Quagliarella mit virtuellen Mitteilungen zu belästigen, findet der Unbekannte schon bald einen noch perfideren Weg, die heile Welt des Napoli-Profis ins Wanken zu bringen. Einmal, manchmal zweimal pro Woche, erhalten seine Eltern Briefe von einem unbekannten Absender, die unfassbare Anschuldigungen beinhalten: "Die Briefe enthielten Nacktbilder von minderjährigen Mädchen, mit denen ich geschlafen haben soll. Der Absender teilte meinen Eltern mit, dass ich ein Pädophiler sei", sagt Quagliarella. "Es waren offensichtlich Fotos, die aus dem Internet heruntergeladen wurden. Das war nicht nur für mich das Schlimmste überhaupt. Auch meine Mutter hatte mit diesen Vorwürfen unglaublich zu kämpfen."

Piccolo ist über die neuesten Entwicklungen im Bilde, hält die Opfer an, das Papier nicht mit bloßen Händen anzufassen, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu verwischen. "Das war wie in einer CSI-Folge", sagt Quagliarella. Unterdessen verschickt der Stalker immer weiter Post mit furchtbaren Bezichtigungen. Quagliarella manipuliere Spiele, nehme an wilden Sex-Orgien teil. Einmal wird sein Vater Vittorio namentlich adressiert, erhält ein Foto, auf dem ein Sarg mit dem Konterfei seines Sohnes abgebildet ist: "Vittorios Sohn wird sterben", steht darunter.

Intensiviert wird der Terror durch SMS auf Vittorios Handy. "Ich weiß, dass dein Sohn diese Nacht in Neapel unterwegs ist. Wir werden ihm in die Beine schießen. Wir werden ihn totprügeln", lautet eine der schauderhaften Kurzmitteilungen.