Der Fall Bonucci: Eine Entscheidung pro Allegri

Von Pascal De Marco
Massimiliano Allegri und Leonardo Bonucci sind keine Freunde geworden
© getty

Nach sieben Jahren in Turin wechselt Leonardo Bonucci vollkommen überraschend von Juventus zum AC Milan. Der 30-Jährige ist bei der Alten Dame zu einem der besten Verteidiger der Welt gereift, eine Identifikationsfigur geworden und gewann mit den Bianconeri sechs Meisterschaften in Serie. Der Wechsel zum Ligakonkurrenten ist nicht nur mit der sportlichen Perspektive zu begründen.

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Cardiff, 3. Juni. Leere, Schockzustand und Fassungslosigkeit. Das verlorene Finale der Champions League setzte für Juventus eine rabenschwarze Serie fort. Zum fünften Mal in Folge zog der italienische Rekordmeister in das Finale der Königsklasse ein, ohne am Ende den Pokal mit den großen Ohren in den Himmel strecken zu können.

Das große Ziel der modernen Ära Juventus. Ein Traum, der nach einem nicht zu erklärenden Leistungsabfall in der zweiten Halbzeit gegen Real Madrid erneut zerplatzte.

Sechs Jahre Dominanz in Italien, doch auf europäischer Ebene scheint ein Fluch über dem Team aus dem Piemont zu liegen. In der Kabine soll es während der Halbzeitpause zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen sein. Hauptperson: Leonardo Bonucci.

Bonucci und Conte: wie Seelenverwandte

Im Sommer 2010 kam der damals 23-jährige Innenverteidiger als einer der ersten Transfers des neuen Sportdirektors Giuseppe Marotta vom FC Bari zu Juventus. Marotta wurde installiert, um der Alten Dame aus einer schweren Formkrise zu helfen. 2010 und 2011 beendete Juve seine Serie-A-Kampagne nämlich im Tabellenmittelfeld auf Platz sieben.

Marottas Regime sollte den Beginn einer neuen Ära einleiten. Mit dem Einzug in das Juventus Stadium und der Installation von Antonio Conte übernahmen die Bianconeri das Zepter der Dominanz aus der Mailänder Hand.

Die Spielweise dabei war erfrischend offensiv und aggressiv. Conte entwickelte sich an der Seitenlinie zu einem ständig tobenden Leitwolf, der seine Spieler auf taktischer und mentaler Ebene faszinierte.

Eine Marschroute, die gerade ein Spieler besonders verinnerlichte. Leonardo Bonucci wurde auf dem Feld zu dem, was Antonio Conte an der Seitenlinie war: ein Leader und ständiger Motivator, geleitet von einer ordentlichen Ladung gesunder Aggression. Teilweise auch etwas zu viel davon.

Juve: Bonucci wird zur Identifikationsfigur

Spielerisch entwickelte sich Bonucci schnell zu einem der besten Verteidiger Europas. Aus zentraler Position in Juves Dreierkette fungierte er dank seiner technischen Fähigkeiten oftmals als Regisseur und sammelte mehrfach Assists dank haargenauer Pässe aus der eigenen Spielhälfte heraus. Doch die fußballerische Klasse alleine machte Bonucci nicht zum neuen Fanliebling der Post-Del-Piero-Ära.

Denn wie kaum ein anderer identifizierte sich die Nummer 19 mit der Juventus-DNA. Wie kaum ein anderer suchte Bonucci die direkte Kommunikation zu den Fans und so war der stets kurzgeschorene Schädel des robusten Verteidigers immer wieder in der Curva Sud zu sehen, wenn er mal verletzt war oder eine Sperre abbrummte, kaum zu unterscheiden von den um ihn versammelten Ultras.

Nach drei Jahren und drei Meisterschaften löste Antonio Conte 2014 überraschend am ersten Tag der Sommervorbereitung das Vertragsverhältnis auf. Seinen Transferforderungen zur Verpflichtung von Superstars wollte der Vorstand zu dieser Zeit noch nicht nachkommen. "Mit zehn Euro kann man nicht in einem 100-Euro-Restaurant essen gehen", beschwerte sich Conte vor laufenden TV-Kameras.

Allegris Erfolg kommt zu einem teuren Preis

Ersatz wurde in der Personalie Massimiliano Allegri gefunden. Bei der Ankunft noch von den Juventini aufgrund seiner Mailänder Vergangenheit mit Eiern beworfen, war auch der Sarde nach dem Meistertitel in der ersten Saison bei Juventus angekommen.

Schließlich beförderte er den Klub 2015 erstmals seit 2003 zurück ins Champions-League-Finale. Als klarer Außenseiter ging das Endspiel von Berlin allerdings an den FC Barcelona.

Anders als Conte ist Allegri ein ruhiger Vertreter seines Fachs. Ein Trainer, unter dem Bonucci zu einem abgeklärteren Verteidiger wurde, weniger Risiko ging und häufiger die richtige Entscheidung traf. Allerdings funktionierte die Beziehung zwischen beiden nicht wie zwischen Bonucci und Ex-Trainer Conte. Für Allegri war die aggressive und lautstarke Pointe in der Leaderrolle Bonuccis häufig ein Tick zu viel des Guten.

Im Februar beim 4:0 gegen Palermo eskalierte ein Streit erstmals so, dass die italienische Medienlandschaft mit Gesprächsstoff für die darauffolgenden Monate versorgt wurde. Trainer und Spieler diskutierten während des Spiels minutenlang lautstark. Der Verteidiger sprintete mit dem Schlusspfiff in die Kabine, wo es Medienberichten zu Folge zu einer Konfrontation kam, bei der beide Stirn an Stirn standen.

Bonucci wollte nicht ins Ausland

Der Trainer strich Bonucci daraufhin für das Champions-League-Achtelfinal-Hinspiel gegen den FC Porto aus dem Kader. Der Spieler verweigerte jegliche öffentliche Aussage zu diesem Thema.

Einen Effekt auf das Spiel der Turiner hatte die Thematik zum Leidwesen der nationalen und internationalen Konkurrenz nicht. Juventus marschierte zum sechsten Meistertitel in Serie und stand Anfang Juni vor der Vollendung der langersehnten Träume auf europäischem Boden, als es zum erneuten Affront kam.

Vom Schock des Versagens erholte man sich in Turin lange nicht. Doch zunächst hatte die Vereinsführung eine schwierige Entscheidung zu treffen. Nur vier Tage nach dem verlorenen Finale verkündete Juventus die Verlängerung des 2018 auslaufenden Vertrages von Massimiliano Allegri. Leonardo Bonucci empfand dies als Entscheidung pro Allegri und gegen Bonucci.

Während der Transfer von Dani Alves nur so lange schmerzte, wie ein Juventino den Zucker in seinem Espresso umrührt, ist die Meldung des Abgangs von Bonucci zum Ligakonkurrenten Milan ein erneuter Schock, dessen Verarbeitung viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Bonucci war zwar mit internationalen Top-Klubs in Verbindung gebracht worden, doch schien ein ligainterner Abgang zu keiner Zeit realistisch.

Für den 30-Jährigen kam ein Abschied aus Italien allerdings trotz des Interesses vom FC Chelsea und Manchester City, die gerne dazu bereit gewesen wären, mehr als 40 Millionen Euro plus zwei Millionen Euro Bonuszahlungen zu zahlen, nie in Frage. Grund dafür ist vermutlich die schwere Erkrankung seines Sohnes Matteo, wegen der er sogar schon über ein Karriereende nachgedacht hatte.

Bonucci-Abgang nicht wie bei Vidal und Pogba

Nun sind Abgänge der Superstars für Juventus kein ungewohntes Bild. Als Arturo Vidal (2015, FC Bayern) und Paul Pogba (2016, Manchster United) den Verein verließen, war von einer Schwächung des Teams nichts zu erkennen. Ob dies auch nach dem Abschied von Bonucci der Fall ist, ist eher unwahrscheinlich.

Allegri muss nach diesem Verlust wohl auf die Variante der Dreierkette verzichten. Bonucci war einer der wenigen Spieler, bei denen von jeglichen Rotationsmaßnahmen abgesehen wurde. Stand er einmal nicht auf dem Platz, so agierte Juventus aus einer Viererkette heraus.

Die Konkurrenz dürfte ob dieser Meldung allerdings aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommen. Zum einen gesellt sich im San Siro dank chinesischer Finanzkraft ein neuer Kandidat dem Meisterschaftsrennen hinzu. Zum anderen sorgen jegliche Negativ-Meldungen aus Turin in diesem Jahrzehnt für nationale Festtagsstimmung.

Ob diese Stimmung auch über den Sommer hinaus anhält, wird eine der vermutlich ausgeglichensten Serie-A-Spielzeiten nach dem Calciopoli-Skandal zeigen.

Diese Einschätzung hat weniger mit den zugegeben gestiegenen Chancen Milans zu tun, sondern vielmehr mit den unabsehbaren Folgen des für Juventus nicht zu ersetzenden Verlusts Leonardo Bonuccis, einem Weltklasse-Verteidiger, einem Leader, einer Identifikationsfigur.

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