"Mit Vollgas gegen die Wand"

Von SPOX
Bevor die Glasbarriere endgültig zu Bruch ging, wurde das Spiel abgebrochen
© Getty

München - Es wirkt fast schon lächerlich, wäre der Anlass nur nicht derart tragisch.

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Die italienischen Politiker meldeten sich nach dem Tod des Lazio-Rom-Fans Gabriele Sandri und den anschließenden landesweiten Krawallen zu Wort - und bestachen lediglich durch puren Aktionismus.

Das Innenministerium etwa verhängte ein Reiseverbot für gewaltbereite Fans und polizeibekannte Hooligans, Sportministerin Giovanna Melandri sprach sich wiederum dafür aus, "aus Respekt" mehrere Wochen den Serie-A-Betrieb auszusetzen. Alle Spiele der zweiten und dritten Profiliga am kommenden Wochenende wurden abgesagt.

Durch derartige Maßnahmen wird jedoch der Grund des Übels nicht beseitigt. Denn: "Mittelfristig wird sich nichts ändern. Italien ist ein Land der Gesten, nicht der Taten. Gesetze werden erlassen, aber schlussendlich sind das nur Buchstaben auf Papier", sagt der in Rom lebende Serie-A-Experte und Premiere-Moderator Jan Henkel.

Aber wie soll es weitergehen im Land des Weltmeisters? Ist ein Ende der Gewalt nur ansatzweise in Sicht? SPOX.com konfrontierte Henkel mit sieben Thesen.

 

These: Die Randale sind ein Spiegelbild der Gesellschaft.

Henkel: Ja. Es ist kein Problem des Fußballs, es ist ein Problem des gesamten Landes. Die Menschen haben kein Verantwortungsbewusstsein. Sie suchen immer nach Ausreden, nehmen nie die Schuld auf sich. Zivilcourage oder Sozialverständnis sucht man mehr oder weniger vergeblich. Italien mag zu den reichsten Staaten der Welt gehören - es ist dennoch ein völlig marodes, heruntergekommenes und von Rechtsradikalismus durchsetztes Land.

These: Vorschläge zur Besserung sind nur Lippenbekenntnisse.

Henkel: Ja. Derzeit ist das klassische italienische Muster zu erkennen. Jemand stirbt, ein paar Tage lang gibt es kein anderes Thema mehr, egal ob Fernsehen, Zeitung oder Internet. Jeder ist betroffen, jeder lamentiert. Aber die Ereignisse im Februar haben doch gezeigt, dass sich mittelfristig nichts ändert. Italien ist ein Land der Gesten, nicht der Taten. Gesetze werden erlassen, aber schlussendlich sind das nur Buchstaben auf Papier.

These: Italien ist nahe dem Zusammenbruch.

Henkel: Jein. Das Land ist ein Überlebenskünstler. Seit Jahren fährt es ohne zu Bremsen mit Vollgas auf eine Wand zu. Das Verrückte ist aber, dass es die Wand nicht erreicht und der ganz große Knall ausbleibt.

These: Der Calcio wird als Plattform missbraucht.

Henkel: Ja. Politische Gruppierungen - 90 Prozent rechtsradikal, 10 Prozent links - nutzen den Fußball zur Selbstdarstellung ihrer politischen Gesinnung. Der Fußball wird instrumentalisiert und dient zu großen Teilen nur noch als Vehikel.

These: Die Vereine zahlen den Preis dafür, dass sie sich von den Ultras abhängig gemacht haben.

Henkel: Ja. Mittlerweile geht die Macht der Ultras soweit, dass sie ganze Klubs im Griff haben, indem sie über den Schwarzhandel die Ticketvergabe organisieren und sogar Spielabbrüche provozieren wie 2004 das Rom-Derby, als sie die Meldung lancierten, ein Polizist hätte einen Jungen überfahren. Auf diese Weise können die Gruppierungen Zugeständnisse von den Vereinsführungen erpressen.

Gleichzeitig haben die Klubs den normalen Fußballfan jahrelang sträflich vernachlässigt. Sie wurden mit den Ultras in maroden Stadien alleine gelassen. Seit der WM 1990 wurde die Infrastruktur praktisch nicht mehr verbessert. Stattdessen investiert der italienische Fußball nur in neue Spieler und in die eigene Tasche.

These: Die italienische Politik ist machtlos.

Henkel: Ja. In England war vor 20 Jahren das Problem mit Hooligans fast noch größer. Mit Hilfe der eisernen Hand der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher hat sich der englische Fußball jedoch selbst gereinigt. Die Politik kann also Lösungen anbieten.

Aber wie soll es in Italien funktionieren? Ein Land, in dem sich die Politiker im Parlament prügeln. Ein Land, das in etliche Lager zersplittert ist und dadurch die Fähigkeit verloren hat,  Konsens zu finden. Ein Land, das von A bis Z, vom Beamten bis zur Nonne, korrupt ist.

These: Eine internationale Instanz muss eingreifen.

Henkel: Jein. Es ist klar, dass Italien die Augen geöffnet werden muss. Das Land ist alleine nicht in der Lage, einen Neuanfang einzuleiten. Aber es wird nicht viel bringen, wenn die UEFA oder die FIFA Sanktionen aussprechen würde.

Denn dann rottet sich das Land zusammen und bemitleidet sich als Opfer, nach dem Prinzip: "Wir Armen. Guckt mal, was die wieder mit uns machen." Ähnlich würde es sich verhalten, wenn die EU etwas genauer auf die Verhältnisse in Italien schauen und dem Land einen Denkzettel verpassen würde. Daher wird sich erst etwas ändern, wenn Italien tatsächlich mal die Wand erreicht und dagegen fährt.

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