Der Pirlo von Pescara

Von Thomas Jahn
Marco Verratti wechselte im Sommer 2012 für 12 Millionen Euro zu Paris SG
© Getty

Marco Verratti gehört zu den größten Talenten im italienischen Fußball und wird bereits als legitimer Nachfolger von Andrea Pirlo gehandelt. Nach seiner Durchbruch-Saison bei Pescara wagte der Mittelfeldspieler den großen Sprung aus der Serie B zum französischen Gigantenprojekt Paris Saint-Germain.

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Wildes Gedränge im hoffnungslos überfüllten PSG-Presseraum, hoffnungsvolle Blicke und ungeduldiges Warten auf den großen Moment - bei seiner Vorstellung in Paris durfte Marco Verratti für einige Minuten die ganz große Bühne genießen. Und doch muss sich der 19 Jahre alte Italiener ein wenig gefühlt haben wie die Vorband der Rolling Stones. Denn: Das große Tamtam in Frankreichs Hauptstadt galt nicht ihm, sondern der sehnlichst erwarteten Hauptattraktion.

Unmittelbar nach der Präsentation des italienischen Neuzugangs war nämlich der große Hauptact des Tages angekündigt: Zlatan Ibrahimovic, der neue PSG-Superstar. Verrattis Ankunft geriet zur Randnotiz im Schatten des millionenschweren Schweden.

Verrattis Auftritt blieb folglich ein kurzer. Brav brachte er bei zwei, drei Alibifragen die Freude über seinen Wechsel in die Hauptstadt zum Ausdruck. Doch ob viele seiner Antworten den Weg in die Notizblöcke der versammelten Journaille fanden, bleibt angesichts des Ibrahimovic-Fiebers fraglich.

Verratti: "Paris war für mich die erste Wahl"

Ein Blick auf die Pariser Kontoauszüge untermauert dieses Bild. Neben Ibrahimovic (23 Millionen Euro) und weiteren Blockbuster-Transfers wie Ezequiel Lavezzi (26 Millionen Euro), Thiago Silva (42 Millionen Euro) oder Loucas Moura (40 Millionen Euro) wirkt Verratti mit der 12-Millionen-Euro-Ablöse beinahe wie ein Nebendarsteller im Gigantenprojekt PSG.

Entsprechend demütig gab er sich nach seinem Einstand: "Mit solch großen Champions, die ich im Fernsehen bestaunt habe, trainieren zu können, macht mich sehr stolz. Es passiert nicht alle Tage, dass ein junger Spieler wie ich bei einem solch großen Klub unterschreibt. Paris war für mich die erste Wahl, das ist hier ein super Projekt."

Profi-Debüt im Alter von 16 Jahren

Dabei ist es gar nicht allzu lang her, dass Verratti selbst mitten im Zentrum des allgemeinen Interesses stand. Bei Delfino Pescara, dem Klub, bei dem er bereits mit 16 Jahren als Profi debütierte, erlebte der Mittelfeldmann in der vergangenen Saison seinen großen Durchbruch und spielte sich auf die Zettel zahlreicher Topklubs wie Juventus oder ManCity.

Gemeinsam mit den Angreifern Lorenzo Insigne und Ciro Immobile mischte er ein Jahr lang die gesamte Serie B auf. Das Triumvirat war in der Saison 2011/12 an 76 von 90 Pescara-Toren beteiligt und zeichnete damit für den Löwenanteil am Aufstieg der Delfini verantwortlich. Verratti selbst steuerte zwar neun Assists in 31 Partien bei, doch sein Wert für die Mannschaft fußte nicht bloß auf blanken Scorerpunkten.

Durchbruch als "Regista"

Ein entscheidender Faktor in Verrattis Entwicklung: Das 4-3-3-System, das Coach Zdenek Zeman mit nach Pescara brachte. Der gebürtige Tscheche erkannte Verrattis Potenzial und zog ihn von der offensiven auf die defensivere Position im zentralen Mittelfeld zurück - und damit auf das nächste Level seines Leistungsvermögens.

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Grandiose Übersicht, Passsicherheit, ausgereifte Technik und präzise Standards hatte er schon als klassischer Zehner immer wieder gezeigt. Als "Regista", dem Spielmacher aus der zweiten Reihe, bewies Verratti nun, dass er trotz seiner bubenhaften Statur auch enorme Qualität als Defensivstratege besitzt.

Ungeachtet der Körpergröße von nur 1,65 Meter und einem Gewicht von 60 Kilogramm entpuppte sich das aggressive Spiel gegen den Ball als ein zusätzlicher Trumpf in Verrattis Repertoire, das dank Zemans Schachzug nun sowohl kreative als auch destruktive Komponenten enthielt.

Mit nur 19 Jahren war das Multitalent zu Delfinos Herz und Hirn im zentralen Mittelfeld geworden, das für die perfekte Balance zwischen Abwehr und Angriff sorgte - oder kurz: zum Pirlo von Pescara.

"Er kann das Spiel vor allen anderen lesen"

Ein naheliegender Vergleich, der nicht bloß in Italien schnell die Runde machte. Auch PSG-Coach Carlo Ancelotti erkennt große Gemeinsamkeiten zwischen beiden Spielern: "Verratti ist ein Regisseur. Wie Pirlo kann er das Spiel schneller als alle anderen lesen. Er zeigt eine große Leichtigkeit bei kurzen und langen Pässen."

Und tatsächlich scheint Pirlo den Youngster nachhaltig inspiriert zu haben. "Er ist der beste Mittelfeldspieler in Italien, vielleicht sogar weltweit. Ich gebe zu, dass ich ihn immer im Fernsehen angeschaut habe, um meine eigene Rolle auf dem Platz besser zu verstehen", sagt Verratti und fügt an: "Ich werde versuchen, ihm nachzueifern und in seine Fußstapfen zu treten."

Prandelli bedauert Verrattis Wechsel zu PSG

Einen ersten Schritt in Richtung dieses Ziels vollzog Verratti am 15. August 2012, als er im Alter von 19 Jahren für Italiens A-Nationalmannschaft im Länderspiel gegen England debütierte.

Noch drei Monate zuvor war er von Coach Cesare Prandelli aus dem endgültigen EM-Aufgebot gestrichen worden, was angesichts etablierter Konkurrenten wie Daniele de Rossi, Riccardo Montolivo, Thiago Motta, Claudio Marchisio und eben Pirlo allerdings nicht als fehlende Wertschätzung zu verstehen war.

Prandelli weiß um Verrattis Qualität und sieht ihn als Mann für die Zukunft. Zu gern hätte der Coach seinen Hoffnungsträger daher in der heimischen Serie A spielen sehen: "Es ist eine Schande, dass wir ihn in Italien nicht halten konnten. Vielleicht hätten wir sein Talent schneller erkennen und ihn davor bewahren müssen, im Ausland zu landen."

Lob von Frankreichs Presse

Ungeachtet dessen entschied sich Verratti gegen das interessierte Juventus und für PSG, wo er "ideale Bedingungen" für seine Entwicklung sieht. Denn: Auch Ancelotti setzt auf das aus Pescara-Zeiten vertraute 4-3-3-System. Und: Ancelotti setzt auf Verratti.

In zwei von bislang vier Ligaspielen stand der junge Italiener in der Startelf. Die französische Presse lobte ihn für seine äußerst aggressive Defensivarbeit und gute Balleroberungen, bemängelte jedoch auch einige Unkonzentriertheiten.

Verrattis großer Trumpf liegt auf der Hand: Er bietet das Gesamtpaket und verfügt neben den Spielmacher-Qualitäten auch über die defensive Robustheit, die es in Ancelottis Dreierreihe im 4-3-3 vor der Abwehr benötigt.

Eben diese Vielseitigkeit könnte ein Vorteil im Kampf um die Startelf sein - und der ist bei PSG mit hochklassigen Konkurrenten wie Thiago Motta, Mohamed Sissoko, Javier Pastore, Blaise Matuidi oder Mathieu Bodmer kein allzu leichter.

Verratti als "Lebensversicherung"

Sicher scheint: Viel Zeit, sich an die höhere Spielklasse anzupassen wird Verratti trotz aller Lobeshymnen nicht bekommen. Die gigantischen Investitionen der Hauptstädter haben eines unterstrichen: Für PSG-Präsident und -Mäzen Nasser Al Khelaifi zählen das Hier und Jetzt, der schnellstmögliche Erfolg und die Tore eines 30 Jahre alten Ibrahimovic.

Doch schenkt man den Worten von PSG-Sportdirektor Leonardo Glauben, dann wird Verrattis Wechsel den Klub mittelfristig weitaus mehr prägen als der schwedische Superstar. Und weitaus mehr, als es Verrattis beiläufige Präsentation im Ibra-Vorprogramm vermuten ließ.

Leonardo prophezeit: "Verratti ist unsere Lebensversicherung. Wir haben jetzt zwölf Millionen investiert und uns gesagt, dass wir in acht Jahren einen mordsmäßigen Spieler haben werden. Nasser wollte einen vom Niveau Messi, aber jetzt ist er sehr zufrieden, einen vom Niveau Pirlo bekommen zu haben. In zehn Jahren wird man den Turiner (Pirlo, Anm. d. Red.) als den Alten Verratti präsentieren - ihr werdet sehen!"

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