Das Trauma muss weg

SID
Steven Gerrard spielt schon seit seiner Kindheit für den FC Liverpool
© Getty

Der FC Liverpool träumt nach fast 20 Jahren wieder von der Meisterschaft - und hat berechtigten Grund dazu. Raphael Honigstein analysiert die Lage an der Anfield Road und zeigt auf, wieviel Mythos und Pathos immer noch in den Reds steckt. Für SPOX berichtet er jeden Donnerstag aus London von den Entwicklungen vor Ort.

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Weihnachten ist dieses Jahr auf der Insel für viele Menschen ein Fest der Sorgen. Bei den durch Hypotheken und Kreditkarten persönlich hoch verschuldeten Briten spürt man die Wirtschaftskrise schneller und stärker als auf dem Festland. Tausende wurden bereits entlassen, Tausende sehen 2009 mit Schrecken entgegen.

In einer Stadt im Nordwesten - besser gesagt in einer Hälfte dieser Stadt - regiert jedoch der Optimismus. Der FC Liverpool steht zum ersten Mal seit gefühlten 100 Jahren an Weihnachten an der Tabellenspitze und allmählich trauen sich die Anhänger der Reds, ein bisschen zu träumen.

Können sie 2009 endlich die Premier League gewinnen und somit die 19-jährige Durstrecke beenden? 1990 schlitterte Großbritannien ebenfalls ein die Rezession, vielleicht ist das ja ein "gutes" Omen. "Am Anfang der Saison hat niemand gedacht, dass wir Tabellenführer sein könnten", sagt Assistenztrainer Sammy Lee, "aber wir schon. Wir glauben an uns und daran, dass wir oben bleiben können. Wir sind nicht überrascht von unserem Erfolg."

Zu langsam für die Premier League?

Der Rest des Landes aber schon. Wenig hat vor Beginn der Saison darauf hingedeutet, dass Rafael Benítez im fünften Amtsjahr endlich das richtige Personal und die richtige Taktik für die Meisterschaft finden würde. Neueinkauf Robbie Keane (22 Millionen Euro, Tottenham Hotspur) sucht noch nach Form und Bestimmung; Neuverpflichtungen wie Philipp Degen (Dortmund) oder Andrea Dossena (Udinese) haben den Kader nicht wirklich verbessert. Dazu kommt die sprichwörtliche Risikoscheue des Trainers.

Liverpools abwartendes, aus einer starken Defensive und nahezu perfekten Raumaufteilung geborene Spiel, war immer ein Erfolgsgarant in der kultiviert-langsamen Champions League, für den hektischen Liga-Alltag erwies sie sich aber als komplett unbrauchbar.

Gegen selbst im eigenen Stadion mauernde Abstiegskandidaten kommt man so nicht zu den nötigen Punkten; drei Unentschieden in Folge an der Anfield Road zeigen, dass den Roten nicht viel gelingt, wenn man ihnen Ball und Initiative überlässt.

Anders als in den vergangenen Jahren schwächelt allerdings in dieser Spielzeit die Konkurrenz gehörig.

Wer sagt also, dass dieses Jahr nicht die Liverpooler Spezialisten im Nicht-Verlieren Meister in einer Liga werden, die niemand sonst gewinnen will?

"Es ist einfach viel zu lange her"

Am Freitag kehrt immerhin Fernando Torres gegen die Bolton Wanderers in den Kader zurück. Die Tore des Spaniers dürften bald wieder helfen, "die vielen Unentschieden in die Siege zu verwandeln, die man an der Tabellenspitze braucht", wie Jamie Carragher sagt. Der Verteidiger weiß, was der Titel den Fans bedeuten würde. "Es ist einfach viel zu lange her", sagt er. "Das letzte Mal, dass Liverpool Meister wurde, war ich noch ein zwölfjähriger Everton-Fan."

Vor 1990 war Rekordmeister Liverpool knapp zwei Jahrzehnte lang der alles beherrschende Klub auf der Insel gewesen. Die Scousers, wie man die Bewohner der Stadt an der Mersey nennt, hatten sich an die eigene Vormacht gewöhnt. Doch dann übernahm plötzlich das verhasste Manchester United das Zepter, und dazu erwuchs Konkurrenz aus London, der reichen Hauptstadt. Für Liverpool war der sportliche Abstieg zu einem ganz gewöhnlichen Verein äußerst traumatisch, denn er ging mit dem wirtschaftlichen Abstieg der ganzen Stadt einher.

Seit Premierministerin Margaret Thatcher Mitte der Achtziger mit Gewalt die Bergwerke schließen ließ und Tausende arbeitslos wurden, fühlt man sich vom Rest des Königsreichs latent benachteiligt und verlassen. Das Lebensgefühl oszilliert zwischen Trotz und Selbstmitleid. Hier gibt man sich - ganz unbritisch - den ganz großen Gefühlen hin, in und außerhalb des Stadions.

Gerrards tragische Verbindung zu Hillsborough

Rund um die Anfield Road sind die Straßenzüge verbarrikadiert, selbst amerikanische Fast-Food-Ketten wollen hier keine Filialen aufmachen. Neben dem Shankly-Gate, dem nach dem Erfolgstrainer Bill Shankly benannten Eingangstor, ist eine Gedenktafel aus Marmor angebracht, auf der 96 Namen in goldener Schrift stehen. Jeden Tag bringt jemand frische Blumen, denn die Trauer hört an der Mersey nie auf: Die 96 Liverpool-Fans, die im April 1989 bei einer Massenpanik im Hillsborough-Stadion von Sheffield ums Leben kamen, werden wie Märtyrer verehrt.

"'You'll never walk alone', unsere Hymne", sagt Kapitän Steven Gerrard, "das ist nicht nur ein schönes Lied. Es ist ein Pakt. Wir halten zusammen, in guten wie in schlechten Zeiten." Gerrard war acht Jahre alt, als sich die Katastrophe ereignete.

Die ganze Stadt war davon betroffen, aber die Gerrards hatte es besonders schwer erwischt. Sein Cousin Jon-Paul Gilhooley, 10, wurde auf der Tribüne zerquetscht. Gerrard war damals gerade in Liverpools Ausbildungsprogramm aufgenommen worden. "Immer wenn ich Jon-Pauls Eltern sah, strengte ich mich besonders an", schreibt er in seiner Biografie, "sie sagten mir, dass Jon-Paul stolz auf mich wäre. Ich spiele für ihn".

Liverpool als Religionsgemeinschaft

Hillsborough, so paradox das auch klingen mag, half dem Verein und den Menschen, besser mit der Schuld von Heysel umzugehen. Vor dem Europokalfinale gegen Juventus randalierten in Brüssel 1985 Liverpool-Anhänger, 39 italienische Fans starben, die englischen Vereine wurden damals für fünf Jahre aus den europäischen Wettbewerben ausgeschlossen.

Gerrard bleibt auf dem Weg ins Stadion oft an der Gedenktafel stehen und bekreuzigt sich. Zum Jahrestag des Unglücks gibt es eine große Gedenkfeier, die Mannschaft hat Anwesenheitspflicht. "Es gehört sich, dass wir den 96 unseren Respekt erweisen", sagt er. Das Klischee entspricht ausnahmsweise der Wahrheit: Der FC Liverpool ist wirklich eine Religionsgemeinschaft. Man ist nicht Fan, sondern ein Mitglied dieses Kultes, der wenn schon nicht Erlösung, zumindest Hoffnung verspricht. Hoffnung auf Glanz, Trost und Freude in einer an vielen Stellen immer noch recht grauen, trostlosen Stadt.

Der irrwitzige Champions-League-Sieg in Istanbul im Mai 2005 hat viel Stolz und Ehre gebracht, doch Liverpools Wiedergeburt als rechtmäßige Spitzenmannschaft wäre in den Augen der roten Armee erst vollständig, wenn die Meistertrophäe an die Mersey kommt.

20 Jahre nach Hillsborough wäre das ein passender Zeitpunkt.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 15 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungiert Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 34-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.

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