"Lewis" weiß, wie man Weltmeister wird

SID
Theo Walcott (l.) kam bereits in 136 Pflichtspielen für die Gunners zum Einsatz
© Getty

In seiner aktuellen SPOX-Kolumne beschäftigt sich Raphael Honigstein mit der Karriere von Theo Walcott: Der englische Nationalspieler wechselte mit gerade einmal 16 Jahren für 18 Millionen Euro zum FC Arsenal. Titel mit den Gunners blieben bisher aus. Woran sind der 21-Jährige und sein Team in diesem Jahr gescheitert? Und was hat er mit "TJ and the Hat-Trick" zu tun?

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Die Wochen vor Ende einer Saison trudeln für Spieler und Vereine ohne Titelambitionen sehr langsam ins Aus, wie ein schlaff gespielter Fehlpass.  Es ist die Zeit zwischen den Jahren, das fußballerische Äquivalent der sieben Tage von Weihnachten bis Silvester, eine Phase der analytischen Rückblicke und romantischen Zukunftshoffnungen.

Das gilt für Theo Walcott ganz besonders. Der 21-Jährige sitzt im Jeanshemd in einem feinen Golf-Hotel unweit des Arsenal-Trainingszentrums von Colney. Er ist höflich, intelligent, für einen Premier-League-Star beinahe unheimlich natürlich und bestens gelaunt. Seine Gedanken aber bewegen sich zwischen zwei Extremen: der spürbaren Enttäuschung über eine verpatzte Saison mit den Gunners steht die Aussicht auf ein erfolgreiches Turnier in Südafrika gegenüber.

Das Leben im Konjunktiv

"Im Fußball macht es eigentlich keinen Sinn, das Wörtchen ‚Wenn' zu benutzen", sagt der Flügelstürmer nachdenklich. "Aber es war definitiv eine Saison, die auch ganz anders hätte laufen können. Wenn man sich anschaut, wie viele Punkte wir unnötig verschenkt haben, obwohl wir gut gespielt haben. Wenn man sieht, wie viel Pech wir mit Verletzungen hatten..."

Er selbst habe Wehwehchen "im zweistelligen Bereich" gehabt, die ihn daran gehindert hätten, in einen guten Rhythmus zu kommen, sagt er. Eduardo war ständig verletzt, Cesc Fabregas ebenfalls, in der Defensive fehlte teilweise die komplette Innenverteidigung.

Dazu kam der aus Arsenal-Sicht vielleicht entscheidende Ausfall von Stürmer Robin van Persie, der sich zu Anfang der Spielzeit in Weltklasseform präsentiert hatte. Ohne den Niederländer als zentraler Fokuspunkt der Angriffe litten die Nord-Londoner unter dem klassischen Arsenal-Problem: ihre hübschen Ballstafetten führten oft ins Nirgendwo.

Auswärtssiege bei Kampftruppen wie Stoke oder Blackburn hätten zwar gezeigt, dass man an Widerstandskraft gewonnen habe, sagt Walcott, "in den Spitzenspielen gegen Chelsea und Manchester United wurden wir aber einfach zur Seite geschubst. Da hat man gesehen, was uns noch fehlt: die Fähigkeit, mal ein schmutziges 1:0 oder ein Unentschieden mitzunehmen".

Anschauungsunterricht von Messi

Im Champions-League-Viertelfinale gegen den FC Barcelona fehlte dann noch ein bisschen mehr, aber gegen Lionel Messi und Co. auszuscheiden, war "nicht die allergrößte Schande", findet er.

"Messi und seine vier Tore haben uns gekillt, der Mann war unerhört gut. Selbst als Gegenspieler musst du zugegeben, dass er fantastisch war; was der mit dem Ball macht, und vor allem wie leicht das bei ihm aussieht, ist schon unglaublich. Man kann da nur staunen und hoffen, dass man sich etwas abschauen kann".

Die sprichwörtliche Unerfahrenheit der Gunners will er nach fünf titellosen Jahren nicht mehr als Entschuldigung gelten lassen: "Die Fans und der Trainer haben viel Geduld mit uns gehabt. Es ist höchste Zeit, dass wir das Vertrauen zurück zahlen und endlich etwas gewinnen."

Ein mal verletzungsfrei durch die Saison

Walcotts persönlicher Werdegang steht stellvertretend für sein Team. Der mit 16 Jahren für 18 Millionen Euro vom Zweitligisten FC Southampton gekaufte Junge galt auf der Insel zu Recht als größtes Talent seit Wayne Rooney.

Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten blitzten über die Jahre immer wieder auf; beim 4:1-Sieg in Kroatien in der WM-Qualifikation gelang ihm im Herbst 2008 ein sensationeller Hattrick. "Er ist unser Retter", jubelte die "News of the World". Viele Verletzungen, darunter hartnäckige Probleme mit einer ausgekugelten Schulter,  warfen ihn jedoch immer wieder zurück.

"Ich wollte oft zu früh wieder einsteigen und habe mich zu sehr unter Druck gesetzt", erzählt der Tempodribbler. "Mein persönliches Ziel für das nächste Jahr ist es, einmal verletzungsfrei durch die Saison zu kommen".

"Ich glaube nicht, dass ich es verdient hatte, dabei zu sein"

Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika ist Walcott gesetzt. Doch der im südenglischen Städtchen Newbury groß gewordene Sohn eines jamaikanischen Einwanderers und einer englischen Mutter hat gelernt, dass man selbst mit Träumen, die wahr werden, vorsichtig sein muss. Vor vier Jahren, in Deutschland,  wurde er völlig überraschend von Nationaltrainer Sven-Göran Eriksson ins Team berufen, stand aber keine einzige Minute auf dem Platz. "Ich glaube nicht, dass ich es damals wirklich verdient hatte, dabei zu sein", sagt er heute ehrlich.

Walcott war mittendrin im gewaltigen Medien-Hype um die vermeintlich "goldene Generation" und dem Trubel um die WAGs (Wives and Girlfriends) in Baden-Baden, aber eben nicht richtig dabei. Er nahm seine Eindrücke auf Video auf, auch um seinen Frust zu verarbeiten: "Am Anfang war ich überglücklich, doch mit der Zeit wurde mir klar, dass ich keine Chance haben würde, zu spielen. Ich war jedenfalls froh, dass meine Freundin und meine Familie für mich da waren. Vielleicht hatten wir aber etwas zu viel Freizeit".

Capellos Aura

Unter dem gestrengen Signore Capello sieht die Sache natürlich ganz anders aus. "Der Mann hat eine Aura", sagt Walcott, "wenn er spricht, dann hörst du zu und schaust nur ihn an. Der Respekt für ihn ist enorm im Team. Ich denke, dass wir es dieses Jahr richtig machen werden. Es wird eine ganz andere Geschichte als 2006 sein."

Er erzählt von einer Trainingseinheit, die der Italiener unterbrach, um die Spieler zehn Minuten lang sehr deutlich und unverblümt auf ihre Fehler hinzuweisen. "Er hat uns richtig rund gemacht", sagt Walcott. Einmal sei er nach einem Missverständnis eine halbe Stunde zu spät zu einer Besprechung gekommen, erinnert er sich schaudernd. "Ich bin dann zu ihm hin, um mich zu entschuldigen, doch er hat nur mit den Schultern gezuckt und die Tür zugemacht. Danach war ich immer der Allererste: im Bus, auf dem Platz, beim Essen...."

"Lewis" weiß, wie man Weltmeister wird

Für viele erfahrene Spieler wie Gerrard, Lampard oder Terry wird es wohl die letzte WM sein, die letzte Chance. Walcott hofft, dass England auch deswegen sehr viel konzentrierter als vor vier Jahren in das Turnier gehen wird; bereit, die hohe individuelle Qualität endlich in funktionierende Mannschaftsleistungen zu verwandeln. "Wenn uns das gelingt, werden wir gut aussehen".

Mit Wayne Rooney habe man einen Weltklasse-Spieler in den eigenen Reihen, der den gegnerischen Verteidigern schon vor Anpfiff Angst mache, sagt er, und wer weiß, vielleicht kommt im Juni mit "Lewis", wie sie Theo in der Arsenal-Kabine wegen seiner Ähnlichkeit mit Formel-1-Fahrer Lewis Hamilton rufen, noch ein zweiter Weltklassespieler hinzu.

Walcott weiß, wie es sich anfühlt, Weltmeister zu werden, zumindest auf der Playstation. "Ich spiele mich immer selbst und versuche, im Alleingang die Tore zu machen", lacht er, "genauso, wie man Fußball nicht spielen sollte." Man könne aber tatsächlich viel für das echte Spiel lernen, fügt er hinzu, "man sieht Räume und Laufwege der Mitspieler besser".

Zweite Karriere als Autor

Lernen ist überhaupt ein sehr wichtiges Thema für ihn. Vor kurzem hat er zwei Kinderbücher geschrieben, die Jugendliche zum Lesen und Fußballspielen animieren sollen:  "TJ and the Hat-Trick" und "TJ and the Penalty". Der autobiografische Held der Geschichten ("TJ" war Walcotts Spitzname in der Schule) spielt in einem Team, das sich auf Grund harter Arbeit und den Fähigkeiten des Trainers gegen bessere, reichere Schulmannschaften durchsetzt. "Die Bücher zeigen, dass alles möglich ist, und dass jeder seine Rolle finden kann", sagt er. "Ich selbst war früher Torwart".

Auf der Position hätte Capello auch Bedarf. Doch wenn nicht noch eine Verletzung dazwischen kommt, dürfte Walcott auf der anderen Seite des Platzes für Wirbel sorgen.

Und niemanden im Team der "Drei Löwen" würde man eine erfolgreiche WM mehr gönnen als dem super sympathischen Jungen. Der 2006 zusammen mit Owen Hargreaves der einzige Engländer war, der für das Fiasko überhaupt nichts konnte.

Daten: Theo Walcott im Steckbrief

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig.