Die Lust am wilden Thrill

Von SPOX
Manchester City bezwang United im Derby mit 6:1
© Getty

In den Top-Spielen der Premier League fielen zuletzt so viele Tore wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Die Gründe? Mancinis Hurra-Fußball, das Fehlen der stabilen Mitte und womöglich auch der FC Barcelona.

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"Enjoy the show", stand auf den Popcorn-Tüten, die ein Sponsor vor dem Derby gegen Arsenal im Stamford-Bridge-Pressezimmer ausgelegt hatte. Auf der Tribüne hinter den Trainerbänken wurde danach tatsächlich unentwegt gemampft.

Von den Reportern konnte sich niemand erinnern, wann man zuletzt ein dermaßen unterhaltsames Match erlebt hatte; fraglich war nur, ob das 5:3 der Gunners als ganz großes Kino oder angesichts der fürchterlich fehlerhaften Defensivformationen beider Teams doch besser als "Horrorshow" einzuschätzen war, wie es der Kollege von der "Times" spöttisch formulierte.

Arsene Wenger wusste auch nicht so recht weiter. Nach dem neuen Trend zu den torreichen, absurd offenen Spitzenspielen in der Premier League befragt, betonte der Franzose "die offensiven Qualitäten" der Teams, räumte aber auch "Defizite in der Abwehr" und "Eingewöhnungsprozesse" bei der einen oder anderen Elf ein.

"Wenn er es schon nicht weiß, wie sollen wir es wissen?", tuschelte der Mann vom "Daily Express" neben dem Podest.

7,25 Tore pro Spitzenspiel

Die Gründe mögen diffus sein, doch die Zahlen sind allemal imposant. 7,25 Tore fielen im Durchschnitt in den vier Duellen zwischen Champions-League-Klubs in dieser Saison. Das waren im Fünfjahresvergleich mehr als doppelt so viele wie 2008/09, als der bisherige Spitzenwert in den Topspielen bei 3,08 Toren lag.

Insgesamt sind bisher im Durchschnitt 2,98 Tore in der Liga gefallen - der höchste Wert seit 1967/68. Liegt es tatsächlich an den vielen Superstars im Sturm und offensiven Mittelfeld? Zumindest im Fall von Manchester City lässt sich das relativ einfach beantworten.

Der Meisterschaftskandidat von Scheiches Gnaden verfügt über eine "Abteilung Attacke" gegen die selbst ein Uli Hoeneß in Bestform verblasst. Sergio Agüero, Edin Dzeko und Mario Balotelli haben mit Unterstützung von Samir Nasri, Yaya Toure, Adam Johnson und dem famosen David Silva in den ersten zehn Ligaspielen 36 Treffer erzielt.

Besser war zu diesem Zeitpunkt in einer Saison nur Tottenham Hotspur (37 Treffer), allerdings vor knapp 50 Jahren, in der Spielzeit 63/64. Auch ohne den suspendierten Carlos Tevez lässt der in der Vorsaison noch so vorsichtige City-Trainer Roberto Mancini zum Teil regelrechten Hurra-Fußball spielen; selbst bessere Gegner wie Meister United gerieten in der Folge gehörig unter die Räder.

Mit nur acht Gegentoren sind die Hellblauen zugleich die zweitbeste Defensivmannschaft nach Newcastle United (sieben). Der Knalleffekt ist also zu einem nicht unerheblichen Teil der Dominanz der Abu-Dhabi-Truppe geschuldet.

Uniteds defensive Verwundbarkeit

Erzrivale United hat bisher allerdings ebenfalls rekordverdächtig oft getroffen: 27 Mal. Nie starteten die Stürmer der Red Devils erfolgreicher in eine Premier-League-Saison.

Diese Ziffer wurde jedoch genau wie die 21 Gegentore, die Arsenal erstmals in den zehn ersten Premier-League-Partien kassierte, nachhaltig von einem einzigen, bizarren Match beeinflusst: beim 8:2-Sieg von United über die Londoner im August fielen bei den Gästen ungeheuerliche Personalprobleme und eine in der Wenger-Ära einzigartige Glaubenskrise zusammen.

Uniteds defensive Verwundbarkeit hat andere Gründe. Zum einen verhindern kleinere Verletzungen immer wieder, dass Nemanja Vidic und Rio Ferdinand zusammen auf dem Platz stehen. Die Stamm-Innenverteidigung der letzten Spielzeiten bestritten nur das Charity-Shield-Match gegen City (3:2) im August gemeinsam.

Evans, Smalling und Jones sind zwar ebenfalls keine schlechten Verteidiger, werden jedoch in dem 4-4-2-System, auf das Ferguson im Frühjahr (weitestgehend) umstellte, vom Mittelfeld oft alleine gelassen. Der neue Torhüter David de Gea sah laut Lee Dixon (Experte bei "Match of the Day") in den fünf Heimspielen die unglaublich anmutende Zahl von 91 Torschüssen auf seinen Kasten fliegen.

Chelsea verteidigt höher

Bei Chelsea macht die von Andre Villas-Boas eingeführte hohe Verteidigungslinie die meisten Probleme. Ohne vernünftiges Pressing im Mittelfeld, wo mit John Obi Mikel ein im internationalen Vergleich eher durchschnittlicher Mann auf der Sechser-Position beschäftigt ist, sind Eins-zu-Eins-Situationen vor Cechs Tor vorprogrammiert.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Blauen nur einen schnellen Innenverteidiger haben, der sich wirklich für dieses System eignet: David Luiz. Der 24-Jährige trifft aber zu oft die falschen Entscheidungen. Chelsea hat bereits 15 Gegentreffer hinnehmen müssen, so viele wie in der gesamten 2004/05 Meister-Saison unter Mourinho.

Keine stabile Mitte

Zusammengefasst könnte man sagen, dass sich bei den Top Four - City ausgenommen - defensive Nachlässigkeiten eingeschlichen haben, die jedoch nicht das großartige Offensivpotenzial schmälern. Wir erleben, für den europäischen Vereinsfußball eigentlich untypisch, in der Folge "geteilte" Mannschaften beziehungsweise "broken teams", wie man auf der Insel sagt: Teams der Extreme, denen eine stabile Mitte fehlt.

Dass sich diese Unwucht in torreichen Partien niederschlägt, ist im Grunde keine Überraschung. Richtig "tor-verrückt" ("Independent") wird diese Saison jedoch erst, weil sich beinahe die komplette Liga, von United bis hinunter zu den Aufsteigern QPR, Swansea und Norwich einer offensiven Grundausrichtung verschrieben hat.

Ob dafür das Vorbild Barcelona verantwortlich ist, wie die englischen Zeitungen vermuten, kommerzielle Zwänge im Hintergrund oder die persönlichen Überzeugungen der Trainer, lässt sich schwer eruieren. Nicht auszuschließen ist, dass die Torflut in den Wintermonaten stark abnimmt, wenn Müdigkeit und schlechtere Plätze mit größerer Vorsicht im Tabellenkeller zusammen kommen, und wenn die guten Teams zudem noch besser eingespielt sein dürften.

Rückkehr zur Normalität

Mark Patterson gab in einem Artikel für "Eurosport" zu bedenken, dass der Schnitt nach zehn Spielen in der Vorsaison bei 3,01 Tore lag, bis zum Ende jedoch auf 2,8 abflachte. Vielleicht sollte man die extreme Offenheit in der Liga auch gar nicht als neuen Trend, sondern besser als Rückkehr zur Normalität begreifen.

2005/06 (2,48), 2006/07 (2,45) und 2008/09 (2,48), als Mourinho und Benitez Defensivmaßstäbe setzten und sich ein Großteil der Liga das Spiel mit 4-5-1-Formationen zu ersticken suchte, waren die drei torärmsten Spielzeiten in der Geschichte der Prem.

Englands Fußball hat nun - wenn auch nicht in allen Fällen ganz freiwillig - seine uralten Lust am wilden Thrill wieder entdeckt. Ob die Arsenal, Chelsea und United mit dieser "attack, attack, attack"-Mentalität in den K.o.-Runden die Champions League reüssieren können, ist fraglich, aber das kümmert im Mutterland momentan vor lauter Spaß niemand.

Die Attraktivität der Popcorn-Liga war selten größer. So schön - und oft - knallt derzeit in Europa niemand.

Die Premier League in der Übersicht

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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