Sorge um den Mythos West Ham

Von Raphael Honigstein
Thomas Hitzlsperger ist einer der Hoffnungsträger von West Ham United im Abstiegskampf
© Getty

West Ham United steht am Scheideweg. Ab 2014 spielt man zwar im neuen Londoner Olympiastadion, aber richtige Feierstimmung will bei den Hammers deswegen nicht aufkommen. Der Grund: Das Abstiegsgespenst geht im Londoner East End um. Steht das Ende eines Mythos kurz bevor?

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Seit Donnerstag ist es amtlich: West Ham United hat den Zuschlag für die Übernahme des neuen Olympiastadions in Stratford bekommen. 2014 wollen die Hammers in die neue Arena einziehen, auf dem Gelände des alten Boleyn Ground (benannt nach Anne Boleyn, der zweiten Frau von Heinrich VIII.) sollen in der Zwischenzeit Luxuswohnungen entstehen.

Nach 102 Jahren Fußball an der Green Street  wird der Abschied vielen Fans schwer fallen. Um das Stadion selbst ist es jedoch nicht wirklich schade. Stimmung und Tradition haben drei Modernisierungsmaßnahmen seit 1993 nicht unversehrt überstanden. Die zwei riesigen Plastik-Ritterburg-Türme am Haupteingang bringen einen Hauch von Legoland ins ärmliche East End, außerdem haben die Architekten zwischen den Tribünen und dem Platz zuviel Platz gelassen.

Für einen Hexenkessel ist der Upton Park, wie der Volksmund die Spielstätte nennt, einfach zu luftig. "Es wurden schwere Fehler gemacht", sagt Jacob Steinberg, ein "Guardian"-Fußballreporter und lebenslanger United-Fan.

"West Ham Olympic" = Marketing-Gag

Geschäftsführerin Karren Brady hat kürzlich eine Umbenennung des Klubs in "West Ham Olympic" in Aussicht gestellt, aber das war wohl eher ein Marketing-Gag. Die Hammers bleiben die Hammers, auch nach dem Umzug, das war letztlich neben der Bewahrung der Laufbahn eines der Kernargumente für den Verein von Thomas Hitzlsperger.

Tottenham Hotspur, das sich ebenfalls um das neue Stadion beworben hatte, wäre wie ein Ufo aus dem Norden der Stadt im Osten gelandet, als echter Fremdgänger. "Sie haben hier keine Geschichte", sagte Klub-Besitzer David Sullivan. United zieht dagegen quasi nur um die Ecke.

Dass die Spurs das 600-Millionen-Euro teure Olympiastadion sofort wieder abreißen und mit einer reinen Fußballarena ersetzen wollten, fand beim olympischen Komitee und den Politikern ebenfalls wenig Anklang.

Abstieg wäre eine Katastrophe

Richtige Feierstimmung will dieser Tage bei den Hammers jedoch nicht aufkommen, dafür ist die sportliche Lage zu prekär. Nach einer völlig verkorksten Hinrunde stehen sie trotz zuletzt ansteigender Form noch immer auf einem Abstiegsplatz, das Restprogramm hat es zudem in sich. United muss noch gegen Chelsea, Manchester United, City und Tottenham spielen; dass die Truppe von Avram Grant so indirekt die Meisterschaft mitentscheiden kann, ist allerdings kein Trost.

Der Gang in die zweite Liga wäre vor allem in finanzieller Hinsicht eine Katastrophe. "In der zweiten Liga würden uns 40 Millionen Pfund (47 Millionen Euro) im Budget fehlen", sagt Sullivan, 62. Keine geringfügige Summe bei Schulden von umgerechnet 100 Millionen Euro.

Sullivan und David Gold, 74, hatten den Klub im Januar 2010 aus der Konkursmasse der isländischen Bank Straumur übernommen. Das nicht mehr ganz dynamische Duo hat sein Geld in den Siebziger Jahren mit Porno-Heftchen (Sullivan) und Sex-Läden (Gold) gemacht und kennt keine Scham: "Ich bin ein Freiheitskämpfer", hat Sullivan einmal behauptet.

Hitzlsperger mit Ausstiegsklausel

Frei könnten auch ein oder zwei Spieler im Sommer sein, zu frei, wenn es nach den Eigentümern geht. Sullivan hat zugegeben, dass Leistungsträger wie Scott Parker im Falle eines Abstiegs sofort weg sein würden; Hitzlsperger, verriet er, habe eine Ausstiegsklausel.

Der 28-Jährige will aber gar nicht weg. Schon vor seinem Ligadebüt gegen Liverpool hat er festgestellt, dass er sich in England, wo er einst bei Aston Villa zum Profi reifte, doch am wohlsten fühlt. "Ich weiß nicht ob die Premier League die beste Liga der Welt ist, aber nirgends macht es soviel Spaß", erzählte Hitz den englischen Reportern. Die Reaktionen auf sein Comeback hätten ihn "überwältigt", er genießt die kulturelle Vielfalt Londons und auch der überaus freundliche Umgang der Anhänger mit der Mannschaft fällt ihm auf.

Beim VfB gab es der Hinrunde 2009/10 ständig Unmut und Sitzblockaden, er musste als Kapitän diversen Fan-Delegationen den unerklärlichen Leistungsabfall erklären. "Hier dagegen bleiben die Leute ruhig und zuversichtlich. Man lässt uns im Training arbeiten."

Kapitän Parker mit "churchillesker" Ansprache

Wie das konkret aussieht, kann man sich gar nicht so einfach vorstellen; Trainer Grant ist ja für seine eher passive Amtsführung berüchtigt. Die Spieler haben selbst die Verantwortung übernommen, das war in den vergangenen Wochen unverkennbar.

Beim Stand von 0:3 gegen West Bromwich Albion zur Pause hielt vor zwei Wochen bezeichnenderweise nicht der schweigsame Coach aus Israel, sondern Kapitän Scott Parker eine Ansprache, die Stürmer Carlton Cole später als "churchillesk" bezeichnete. United kämpfte sich zum einem 3:3-Unentschieden zurück.

Der deutsche Erlöser

Hitzlsperger reichten nach der sechsmonatigen Verletzungspause 67 Minuten, um zur großen Figur der Hoffnung aufzusteigen. Der 28-Jährige öffnete beim 5:1 gegen den Zweitligisten Burnley im FA-Pokal mit einem typischen Weitschuss die Tür zur nächsten Runde und nahm neben einer "Man of the Match"-Champagner-Flasche schönste Glückwünsche entgegen. "Perfektes Spiel, Thomas. Du kannst unser Erlöser sein", sagte ihm ein Fan vor dem Stadion am Upton Park.

Hitzlsperger schüttelte, wie es seine Art ist, bescheiden den Kopf ("ein einziger kann nicht den Unterschied machen"), doch sein strahlendes Lächeln verriet die Genugtuung. Es war das erste Match seit seiner Oberschenkelverletzung im Länderspiel gegen Dänemark (August 2010) und es ist ewig lang her, dass er wirklich gebraucht wurde.

Dass er großes Lob von seinem Klubtrainer Grant bekam ("er verbessert unser Spiel ungemein"). Dass sein Präsident ihn als Schlüsselspieler ("Thomas wird den Unterschied ausmachen") bezeichnete. "Eine neue Upton-Park-Legende ist geboren", schrieb der "Independent" ehrfürchtig. Der "Hammer" bei den Hammers. Das klingt in den Ohren vieler Anhänger nach Schicksal und Verheißung.

Der Verein aus der Arbeiterklasse

Den Abstieg würden nicht nur die Fans der Hammers betrauern. Der Klub erzeugt eine ungeheuere Außenwirkung, obwohl sich seine Erfolge (drei Mal FA-Pokalsieger, Pokal der Pokalsieger 1965) im Vergleich mit drei anderen großen Londoner Traditionsvereinen bescheiden ausnehmen, umgibt ihn eine fast schon zauberhafte Aura.

Ein Grund dafür ist seine Entstehungsgeschichte. Die 1895 gegründeten Hammers hießen ursprünglich Thames Iron Works Football Club und waren die Betriebsmannschaft einer Londoner Werft.

Schiffe werden in London schon lange keine mehr gebaut, aber der Spitzname The Irons (Die Eisen) erinnert noch heute an die proletarische Herkunft. Und West Ham hat allein durch seine Lage die Verbindung zur Arbeiterklasse und damit zu den Ursprüngen des Sports stärker als die anderen Klubs aus der Hauptstadt bewahrt.

Wer das Stadion besucht, bekommt eine Ahnung davon, wie der englische Fußball vor gut hundert Jahren aussah. "Die Vereine waren das Produkt von Männern, die auf ihre Sportlichkeit und ihren Ort stolz waren", schrieb der Soziologe Arthur Hopcraft in "The Football Man" über Fußball in den Zwanziger Jahren, "die Stadien wurden dort hingesetzt, wo die supporters wohnten, im industriellen Labyrinth von Fabriken und geduckten Arbeiterunterkünften. Das Match am Samstag war mehr als eine Ablenkung von der täglichen Schleiferei, weil es oftmals gar keine Arbeit mehr gab. Wer zum Match ging, entkam der dunklen Mutlosigkeit und stand im Lichte des Kampfes. Hier, in Verbindung mit der Heimmannschaft, konnten Muskeln und Tore zu einer positiven Identität werden."

Betonwüste East End

Rund um den Upton Park, ein Sozialwohnungsghetto, dem selbst amerikanische Fastfood-Ketten fernbleiben, gibt es kein einziges ansehnliches Gebäude. Es ist eine Betonwüste, an der 13 Jahre Wirtschaftsboom (1994 - 2007) spurlos vorüber gegangen ist.

Schuld sind auch die Deutschen. Hitlers Luftwaffe legte den industriellen Osten der Hauptstadt in Schutt und Asche, prachtvoll wieder aufgebaut wurde nur der Westen. Das East End ist bis heute eine offene Wunde im Gesicht der Stadt, das Viertel zehrt - wie West Ham - ganz von seinem Mythos. Hier, wo die Bomben fielen, war die Leidenskraft und Opferbereitschaft der Bevölkerung am größten.

Das East End, die Heimat der Ur-Londoner, ist mit seinen "Aal in Aspik"-Buden, den Pearly Kings und Cockney-Witzen die gefühlte Seele der Hauptstadt und damit auch des Landes. Die mathematische Gleichung für diese Zusammenhänge wäre einfach: West Ham = East End = London = England.

Blütezeit mit Bobby Moore und Geoff Hurst

Der dritte und wichtigste Grund für Uniteds Sonderstellung ist von nostalgischer Natur. West Hams Blütezeit Mitte der Sechziger fiel mit Englands WM-Gewinn im Wembley zusammen, von den Hammers spielten Kapitän Bobby Moore, der englische Beckenbauer, Hattrick-Torschütze Geoff Hurst und Mittelfeldspieler Martin Peters im Finale. Im East End wird nicht ganz zu Unrecht behauptet, dass West Ham den Pokal für England gewonnen hat.

Der Verein behielt in den Jahrzehnten danach seine beinahe fundamentalistische Verpflichtung zum offensiven Spiel bei, versank sportlich jedoch in der Bedeutungslosigkeit. Anfang des 21. Jahrhunderts produzierte die Nachwuchsabteilung eine Reihe von großen Talenten - Rio Ferdinand, Frank Lampard, Michael Carrick, Joe Cole - doch etablierte Nationalspieler wurden sie allesamt anderswo. Coach Harry Redknapp hatte den Klub kaputt gewirtschaftet.

"Bei West-Ham-Fans halten sich die Trauer über die verblassene Größe und die Hoffnung stets die Wage", sagt Steinberg. Die Hammers haben ein starkes Sendungsbewusstsein: man glaubt daran, England wie 1966 irgendwann wieder von all seinen Leiden erlösen zu können. Doch zunächst muss man sich selbst retten. In einem halbleeren Olympiastadion in der zweiten Liga hätte auf Dauer auch der schönste Mythos das Überleben schwer.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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