King Kenny kann nichts falsch machen

SID
Liverpool-Trainer Kenny Dalglish benötigt diese Saison zwingend die Champions-League-Qualifikation
© Getty

Der FC Liverpool wird in England latent belächelt. Eine Lichtgestalt aus Schottland soll den Reds Glanz und Gloria zurückbringen - und Trainer Kenny Dalglish hat auch stark begonnen. Doch um an Erzrivale Manchester United ranzukommen, bedarf es mehr als den "feel good factor".

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Kenny Dalglish befand sich selbst auf hoher See, als ihn im Januar der Hilferuf aus der Heimat ereilte. "SOS - Save our Season", lautete der Funkspruch von der Anfield Road. Dalglish hatte einige Mühe, auf seinem Kreuzfahrtschiff im Persischen Golf ein Faxgerät aufzutreiben, doch nach ein paar Stunden waren die Formalitäten erledigt.

Beim 0:1 gegen Manchester United (09.01.2011) saß "King Kenny", Liverpools bester Spieler der Vereinshistorie und letzter Meistertrainer, erstmals seit seinem Rücktritt als Liverpool-Coach vor zwanzig Jahren wieder auf der Bank.

Nach der desaströsen Hinrunde unter Roy Hodgson, in der man kurzzeitig in den Abstiegskampf getrudelt war, führte der zunächst nur als Übergangslösung gedachte Dalglish die Reds auf den sechsten Tabellenplatz. Das reichte zwar nicht mehr ganz für die Europa League, sorgte aber dennoch für eine gewaltige Welle der Euphorie an der Mersey, die durch die große Einkaufstour im Sommer noch verstärkt wurde.

Der Verein machte dank der Unterstützung des amerikanischen Eigentümers John W. Henry da weiter, wo man Ende Januar aufgehört hatte. Damals wurden die 56-Millionen-Euro-Erlöse für Fernando Torres (Chelsea) und Ryan Babel (Hoffenheim) fast vollständig in die neuen Stürmer Luis Suarez (Ajax) und Andy Carroll (Newcastle United) investiert.

Liverpool gab bis zum Ende dieser Transferperiode weitere 64 Millionen Euro für neue Spieler aus und baute den Kader fast vollständig um.

"Dalglish-Revolution"

Von einer "Dalglish-Revolution" schreiben die englischen Zeitungen mit einer gehörigen Portion Ehrfurcht vor der Lichtgestalt aus Glasgow. In Wahrheit beruht die Transferpolitik aber auf einer Reihe von Kompromissen und auf einigen taktisch-strategischen Richtlinien, die in enger Zusammenarbeit mit Sportdirektor Damien Comolli erstellt wurden.

Der Franzose sollte auf Bestreben der neuen Besitzer seit November 2010 Liverpools Scouting-Network professionalisieren, die Strukturen im Verein modernisieren und mit Hilfe seiner guten Kontakte auf dem Festland vorwiegend junge und vergleichsweise preiswerte Spieler verpflichten.

Mit der Ankunft von Volkstribun Dalglish änderten sich jedoch die Machtverhältnisse. Der Schotte akzeptierte zwar grundsätzlich Comollis Rolle, ließ sich jedoch auch eigene Entscheidungsgewalt zusichern.

Es war beispielsweise der Trainer, der explizit auf den Kauf des 40-Millionen-Schranks Carroll drängte; Suarez, der in der Premier League bisher ganz groß auftrumpfte, war dagegen Comollis Idee.

Auch die Verstärkungen für diese Saison lassen sich problemlos den zwei Lagern zuteilen. Fast alle Briten - Stewart Downing (Aston Villa), Charlie Adam (Blackpool), Craig Bellamy (Manchester City) - waren Dalglish-Einkäufe.

Trennung von "Altlasten"

Comolli holte den Uruguayer Sebastian Coates (Nacional), Jose Enrique (Newcastle) und Jordan Henderson (Sunderland).

Einige Beobachter auf der Insel waren versucht, die Neuausrichtung als logische Konsequenz des Carroll-Transfers zu deuten - der Mann mit dem Pferdeschwanz braucht Flanken, also wurden mit Downing und Linksverteidiger Enrique die Flügel gestärkt. Doch das allein erklärt noch nicht die Flut der Transfers.

Dalglish bekam von Henry die Erlaubnis, das Mittelmaß, das in den Benitez-Jahren und unter Hodgson den Kader aufgeschwemmt hatte, zu entsorgen.

Spieler wie Paul Konchesky (Leicester), David N'Gog (Bolton) oder der Schweizer Philipp Degen (Vertragsauflösung), der schier unglaubliche 2,3 Millionen Euro im Jahr verdiente, wurden weggeschickt, der glücklose Einfalts-Dribbler Joe Cole an den französischen Meister Lille ausgeliehen. Liverpool kommt weiterhin für knapp die Hälfte seines Gehalts auf.

Meireles zu Chelsea

Obwohl Henry grundsätzlich von Comollis Politik überzeugt war, ließ er Dalglish weitestgehend freie Hand. Der Trainer argumentierte intern, dass es besser war, für einige Wunschspieler ein wenig zu viel auszugeben, als für etwas weniger Geld Kicker zu kaufen, von denen man nicht restlos überzeugt war.

Liverpool zahlte so den in der Premier League üblichen Zuschlag für britische Spieler, die "England-Steuer", wie es der "Daily Telegraph" formulierte. "John Henry hat uns unglaublich unterstützt, ich kann mir keinen besseren Boss vorstellen", sagte Dalglish, begeistert von so viel Vertrauen auf der Vorstandsebene.

Etwas überraschend ließ man den Portugiesen Raul Meireles für 15 Millionen Euro zum FC Chelsea ziehen. Dalglish hätte den Mittelfeldspieler gerne gehalten, sah aber auch drei gute Gründe für den Verkauf.

Man hat zum einen ein Überangebot in der Zentrale, die nach der baldig erwarteten Rückkehr von Steven Gerrard noch überfrachteter zu werden droht. Außerdem hatte der 28-Jährige in der Vorbereitung die nötige Einstellung vermissen lassen, die Ankunft der teuren Konkurrenten, so heißt es, hätten ihn entmutigt.

Nicht zuletzt musste Dalglish auch die hohen Ausgaben etwas abfedern. Meireles war der einzige Profi, der eine zweistellige Ablöse generieren konnte - und deswegen am Ende entbehrlich.

"Dalglish kann nichts falsch machen"

Es gibt an der Basis auch den einen oder anderen kritischen Kommentar zu der Shopping-Tour, aber die meisten Fans heißen die radikalen Veränderungen nach zwei Jahren ohne Teilnahme an der Königsklasse willkommen. "Für sie ist Dalglish eine Legende, ein Mann, der nichts falsch machen kann", sagt Neil Jones, Fußballreporter vom Lokalblatt "Liverpool Echo".

In finanzieller Hinsicht birgt dieser Kurs allerdings viel Risiko. Henry weiß als ausgesprochener Befürworter der neuen Financial-Fairplay-Regeln nur allzu gut, dass die Zeit für derartige Kraftakte abläuft. Liverpool wird in der laufenden Saison höchstwahrscheinlich Verluste schreiben, im nächsten Jahr braucht man dringend die Champions League.

Ohne die Millionen aus Nyon wird es sehr schwer, weiter in den Kader zu investieren. Der seit über zehn Jahren geplante Stadionneubau - anstatt im veralteteten, kleinen Anfield will man in einer modernen Arena für 60.000 Zuschauer spielen - macht auf Dauer ohne europäischen Fußball ebenfalls wenig Sinn.

Talente eher außen vor

Der Klub muss jenseits des Platzes in allen Bereichen wachsen und sein Einkommen steigern. Vor allem muss es gelingen, die international nur hinter Manchester United zurück stehende Fußball-Marke "Liverpool" endlich gewinnbringend auszunützen.

Der enorme Druck, unter die ersten Vier zu kommen, hat sich bereits in den Aufstellungen niedergeschlagen. In der vorherigen Spielzeit hatte Dalglish in einigen Spielen mit einer Dreierkette in der Abwehr experimentiert und ein ganzes Bataillon von Nachwuchsspielern ausprobiert.

Diese Saison stellte der Coach mit Martin Kelly (gegen Arsenal und Bolton) und John Flanagan (gegen Sunderland) nur jeweils ein Talent in die Startformationen, um den verletzten Rechtsverteidiger Glen Johnson zu vertreten.

Nur eine Momentaufnahme? "Kenny ist der beste Trainer, um junge Spieler voran zu bringen", sagte Liverpools spanischer Jugenddirektor Rodolfo Borello noch im Frühjahr, als unter anderem der englische U-17-Flügelstürmer Raheem Sterling erste Einsatzzeiten bekam.

Dalglish bringt den Spaß zurück

Eine andere Altersfrage scheint hingegen geklärt. Dalglish, 60, wirkt trotz elf Jahren Pause - zuletzt trainierte er 2000 für einige Monate Celtic - nicht wie ein Mann von gestern. Er ist sicher nicht der allermodernste Trainer in der Premier League, hat dafür aber mit den Assistenten Steve Clarke und Kevin Keen zwei exzellente Taktiker an seiner Seite, die sich um die Details kümmern.

Dalglish widmet sich dafür anderen, auch nicht ganz unwesentlichen Dingen: Er motiviert die Spieler, achtet auf eine gute Atmosphäre und hält die mediale Kritik von der Kabine fern. "Die Spieler schätzen es ungemein, dass er sich in der Öffentlichkeit stets vor sie stellt", sagt ein Berater eines Liverpool-Profis.

"Die Stimmung im gesamten Verein ist viel besser als vor einem Jahr", bestätigt Jones. "Unter Hodgson war das Selbstvertrauen weg und die Fans bekämpften sich gegenseitig."

Adiletten und Shorts

Interessant wird nun, ob die erhöhte Qualität des Materials und König Kennys "feel good factor" ausreichen, um Arsenal oder Chelsea tatsächlich vom vierten Platz zu vertreiben; an den beiden Klubs aus Manchester werden die Reds ja eher nicht vorbei kommen.

Der große Optimismus, der sich nach dem guten Saisonstart an der Mersey breit gemacht hat, scheint die Gefahren eines Misserfolges - und den damit zusammenhängenden, mittelfristigen Kollateralschäden - einfach auszublenden. Doch man kann es den "Scousern" nicht verdenken.

Dalglish, der nach dem 2:0-Sieg im Emirates-Stadion in Adiletten und kurzer Hose zur Pressekonferenz erschien, gibt ihnen mit seiner unglaublichen Gelassenheit das alte Gefühl von Größe zurück. Man wird wieder als Macht wahrgenommen. Nichts ist für die Stadt, die sich vom Rest des Landes latent benachteiligt und belächelt fühlt, wichtiger.

Die Premier League in der Übersicht

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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