The class of '16

Von Uli Hebel
Die Gesichter der neuen Tottenham Hotspur: Dele Alli (M.) und Harry Kane (r.)
© getty

Lange waren die Tottenham Hotspur kein Top-Team in der Premier League. Selbst in London waren die Spurs mit Mühe unter den besten drei, Arsenal und Chelsea waren zu stark. Hilfe holten sich die Spurs aus dem Nordwesten, genauer dem roten Teil Manchesters. Eine teuflische Idee, die - bewusst oder instinktiv - seit 2015 lilienweiß eingefärbt wird.

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Der Mythos eingestaubt, die Erfolge partiell. Die Idee ist ein Versprechen - Sir Alex Ferguson will mehr Silber auf dem Tisch als drauf passt.

Dazu braucht es: Macht im eigenen Wohnzimmer, in einem der größten Stadien Englands, eine Kultur ausgehend von der Richtlinienkompetenz des Vordenkers, ein Fundament von Spielern des eigenen Hauses, mindestens aber britischer Prägung und natürlich die uneingeschränkte Zuneigung der hart arbeitenden Bevölkerung um und aus der Region.

Zwei Dekaden später ist der Mythos zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte erloschen - zwischenzeitlich war Manchester United Blaupause für jeden Verein auf der Welt.

Tottenham bekommt eine Identität

Die Tottenham Hotspur 2016 sind weit weg von der Weltspitze. Sie sind sogar ein Stück entfernt von der englischen Spitze. Die Tottenham Hotspur sind aber näher dran als je zuvor. Und können den Abstand vielleicht irgendwann komplett aufholen - mit einem Plan, der schon damals bei den Red Devils old school war.

Die Spurs im Jahr 2016 sind mehr Manchester United als Manchester United. Der Vergleich kommt seltsam daher - aber die Gemeinsamkeiten sind genauso wenig von der Hand zu weisen, wie die optische Ähnlichkeit von Cesc Fabregas und Elyas M'Barek.

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Tottenham bekommt eine Identität. Endlich. Nach jahrelangen Versuchen, einen Platz am Tisch der Erwachsenen zu bekommen, die Einsicht: Steine sind besser als Beine. Es sei denn, die Beine kommen aus den Steinen. Architekt ist Mauricio Pochettino. Ja, der Argentinier nimmt den Föhn zum Haare trocknen, während Alexander Chapman Ferguson ihn metaphorisch zum legendären Anpfiff für seine Spieler nutzte. Zeitgeist.

Poch ist wie SAF arbeitswütig und klaren Begriffs einer Philosophie. Mitarbeiter und Presse respektieren ihn. Er kommt um 7 und geht frühestens um 7. Zweck ist der nächste und der nächste Schritt. Positionsloses Spiel in Perfektion. Verinnerlicht von mobilen, flexiblen und schussstarken Athleten. Überall und immer.

Die Tottenham Hotspur und Manchester United im Vergleich 2016/17

Die Achse spricht Englisch

Die Muttersprache der Spurs-Achse ist Englisch. Eric Dier, Dele Alli, Harry Kane. Drei Namen, die Optimisten nicht als Anker sahen. Spieler, die Ferguson längst angerufen hätte, wäre er noch Herr der Telefone bei United. Geformt woanders, vollendet an der White Hart Lane.

Hinzu kommen internationale Stars, die sich nachhaltig zu den Spurs bekennen wie Hugo Lloris, Jan Vertonghen und Christian Eriksen. Das Muster: scouten, roh verpflichten, mit Hotspurs markieren. Seit Pochettino gewinnt die Akademie immer mehr an Wichtigkeit - letztes Beispiel Harry Winks, den der Argentinier von Beginn an protegierte.

Marcus Edwards folgt sicher. Und Carter-Vickers. Und Onomah. Und, und, und. Bei den Spurs gilt wie damals bei United. Junge und willige Sternchen gehen vor alten und teuren Beinahe-Stars. Über allem steht der Prozess.

Kurswechsel unter Pochettino

Als United die Krone Englands inne hatte, versuchte Tottenham, ohne Arbeit aus einem Arbeiterteam eine Elitegruppe zu machen. Jedes Jahr kam ein überteuerter Spieler, der den Zwischenschritt machen wollte, um zu United und Co. wechseln zu können. Für die Spurs mehr Schaden als Nutzen. Perspektive und Versprechen konnte der gierige Chairman Daniel Levy irgendwann nicht mehr mit Schmerzensgeld bezahlen.

Der Anfang der Geschichte musste regelmäßig neu geschrieben werden, weil die Hauptdarsteller abhauten. Heute bleiben die Spieler. Geräuschlose, vorzeitige Vertragsverlängerungen auf Jahre. Mit dem wiederkehrenden Hinweis der Fußballer, man möge den begangenen Weg weiter beschreiten. Und dem Vertrauensbeweis und Dank an Mauricio Pochettino. Die Geschichte wurde schon einmal so erzählt, mit dem fiesen Mancunian-Akzent, der die Pubs in Manchester beschallt.

Spurs führend im Nachwuchsbereich

Passend zum Potenzial der Mannschaft bekommen die Spurs ab 2018 ein neues Zuhause. Eine moderne Fußballarena mit noblem Platz für über 60.000 Zuschauer. Das eigentliche Zuhause wird der gebeutelte Stadtteil Tottenham im Norden Londons aber zunehmend in der Akademie sehen.

West Ham, Arsenal oder Southampton galten über Jahre hinweg als die Vorzeigeschulen. Zu letzterer hat Ex-Saints-Boss Pochettino sogar den Augenbeweis. Sein Urteil ist pro Spurs - mit großem Abstand. Ratet mal, wer Beispiel zur Neu-Ausrichtung der Spurs school stand. Klar! Die "Class of '92". Beckham, Scholes, Butt, Giggs und die Neville-Brüder. Kern der erfolgreichsten Generation Manchester Uniteds und prägende Gesichter der englischen Nationalmannschaft.

Ein Blick in die U-Auswahlen der kleinen Three Lions zeigt: Die Spurs sind längst selbst zur Vorlage für andere Vereine geworden.

"Mit einer Gruppe von Kindern gewinnst du nichts"

Die Tottenham Hotspur sind nicht Manchester United. Sie sind keine Kopie der Red Devils. Sie tragen weiß statt rot und Pochettino, den Ferguson wilden Spekulationen zufolge gar lieber als Louis van Gaal als Manager bei United gehabt hätte, gleicht ihm erst auf den dritten Blick. Die Grundausrichtung Tottenhams aber gleicht der Uniteds von damals. In einer Zeit, in der die großen Klubs lieber Millionen für Namen und Marken ausgeben, als eigene zu fördern.

Am Ende entscheidet der Erfolg. Mauricio Pochettino und die Tottenham Hotspur sind leiser als United damals. Aber sie verfolgen einen Weg. Sie haben ein Ziel. Sie sind bereit, darauf zu warten und härter dafür zu arbeiten als alle anderen. Überzeugung und Understatement. Very british.

In Sachen Silber werden die Spurs wahrscheinlich niemals mit United gleichziehen. Erstens, weil die Sammlung wohl einzigartig ist und zweitens, weil die Premier League smarter und schwieriger zu gewinnen ist als früher. Geschweige denn die Champions League. Aber wie war das damals mit dem Experten, bevor der Jahrgang 1992 bei Manchester United sich aufmachte, die Welt zu erobern? "Mit einer Gruppe von Kindern gewinnst du nichts."

Uli Hebel, geboren 1988 in Burghausen, studierte Journalistik an der Macromedia, Hochschule der angewandten Wissenschaften, in München. Neben diversen Tätigkeiten als freier Journalist, gründete er 2014 - gemeinsam mit Bruder Joachim - den ersten deutschsprachigen Premier-League-Podcast klick & rush. Seit dem ersten Tag ist er als Kommentator und Filmemacher bei DAZN - u.a. für die Premier League und die Championship.

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