Das schwerste Erbe

Von Dominik Stenzel
Jordan Henderson hat sich beim FC Liverpool zum Führungsspieler entwickelt
© getty

Die Vertragsverlängerung von Jordan Henderson war einer der wenigen Lichtblicke für den FC Liverpool in einer enttäuschenden Spielzeit. Der 25-Jährige fand sich nach seiner Premieren-Saison an der Anfield Road auf dem Abstellgleis, durchlebte jedoch einen rasanten Aufstieg. Nun soll er die Reds nach dem Abgang von Vereinsikone Steven Gerrard gar in eine neue, erfolgreiche Ära führen.

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Die verpasste Champions-League-Quali, die höchste Liga-Pleite seit über 50 Jahren und dazu das Wechseltheater um Raheem Sterling - für den FC Liverpool kam es im Saisonendspurt knüppeldick. Sowieso wäre es fast schon eine Untertreibung, die abgelaufene Spielzeit als enttäuschend zu bezeichnen. Nach der grandiosen Vorsaison lag die Messlatte hoch - die Reds kamen aber nie wirklich in Tritt und konnten den gestiegenen Erwartungen zu keiner Zeit gerecht werden.

In all dem Trubel ging fast ein wenig unter, dass Sportchef Ian Ayre und Brendan Rodgers eine zukunftsweisende Personalie klären konnten: Jordan Henderson unterzeichnete am 23. April einen neuen Vertrag und wird zumindest bis 2020 an der Anfield Road auflaufen.

Unkomplizierte Verhandlungen

Die Verhandlungen liefen fast ein wenig untypisch für das moderne Profigeschäft. Es gab keinen monatelangen Poker und der Spieler stellte offenbar auch keine exorbitanten Forderungen. Im Grunde war von Anfang an klar, dass Henderson weiterhin das rote Trikot tragen wird.

"Ich habe immer gesagt, dass ich bei Liverpool bleiben will und dass es keinen anderen Klub gibt, für den ich spielen will. Es lag nur an meinem Agenten und dem Klub, eine Lösung zu finden", äußerte er sich nach der Unterzeichnung des Vertrages, der ihm umgerechnet 140.000 Euro in der Woche einbringt, glücklich. Henderson besitzt die Voraussetzungen, eine der prägenden Figuren der Post-Gerrard-Ära zu werden. Danach sah es allerdings nicht immer aus.

Im Sommer 2011 wechselte der damals 21-Jährige für rund 18 Millionen Euro von Sunderland an die Mersey - eine stolze Summe für einen Perspektivspieler. Unter dem damaligen Trainer Kenny Dalglish war Henderson zwar sofort Stammspieler, überzeugen konnte er - wie das komplette Team - nur selten. Einerseits schien die hohe Ablösesumme den Youngster zu hemmen, andererseits fiel er seiner eigenen Vielseitigkeit zum Opfer.

Schweres erstes Jahr

Auch wenn Dalglish von Hendersons Qualitäten überzeugt war, wusste er nicht so recht, wo er ihn aufstellen sollte. Im zentralen Mittelfeld war selten Platz, meist wurde er auf der rechten Außenbahn eingesetzt. Doch dort konnte Henderson seine Stärken nie wirklich ausspielen.

Nach seinem erstem Jahr in Liverpool schien seine Zukunft ungewiss: Förderer Dalglish musste die Koffer packen, der neue Trainer Brendan Rodgers schien zunächst nicht mit Henderson zu planen. Eine Leihe stand im Raum, zeitweise lag sogar ein permanenter Transfer zum FC Fulham im Bereich des Möglichen.

Beharrlichkeit als Glücksfall

Für Henderson selbst war ein Abschied jedoch nie ein Thema: "Ich wollte mich einfach auf Liverpool konzentrieren, hart arbeiten und meinen Platz im Team finden. Manche Leute mögen denken, dass es besser gewesen wäre zu wechseln. Aber ich habe mir vorgenommen, weiter hart zu arbeiten und zu kämpfen", sagte er zurückblickend.

Hendersons Beharrlichkeit erwies sich als Glücksfall für beide Seiten. Nach holprigem Start unter Rodgers verinnerlichte er dessen Spielidee und fand sich immer besser zurecht. Mittlerweile ist der 25-Jährige im zentralen Mittelfeld nicht mehr wegzudenken.

Als attackierender Mittelfeldspieler nahm er in der Überraschungssaison 2013/2014 eine zentrale Rolle im Spiel gegen den Ball ein. Im Verbund schaffte es das Team, mit unwiderstehlichem Pressing dem Gegner ein ums andere Mal den Ball in aussichtsreicher Position abzuluchsen. Auch wenn die defensive Stabilität fehlte, erzielten die Reds auf diese Weise sensationelle 102 Tore.

Der nächste Schritt in der Entwicklung

Nach dem denkbar knapp verpassten Titel lief es für die Reds in der abgelaufenen Spielzeit alles andere als rund. Der Abgang von Luis Suarez konnte nicht im Ansatz kompensiert werden, Daniel Sturridge hatte die gesamte Saison mit Verletzungen zu kämpfen. Henderson konnte ebenfalls nicht nahtlos an die Leistungen der fulminanten Vorsaison anknüpfen, dennoch nahm er den nächsten Schritt in seiner Entwicklung.

Auch wenn es ihm nicht immer gelang, versuchte er, in der Offensive mehr Verantwortung zu übernehmen. Hendersons Spiel wirkte kreativer als in der Vergangenheit, zudem strahlte er mehr Torgefahr aus. Ein Blick auf die Statistiken verdeutlicht dies: Er kam in 37 Ligapartien auf sechs Treffer und zehn Vorlagen (2013 / 2014: vier Tore und sieben Vorlagen).

Rodgers: "Völlig verschiedene Spielertypen"

In der kommenden Spielzeit steht Henderson vor der nächsten großen Herausforderung. Der Abgang von Vereinslegende Steven Gerrard wirft in den Medien unweigerlich Fragen auf. Können die Reds die riesen Lücke schließen, die der Skipper hinterlässt? Es ist völlig klar, dass es "keinen zweiten Gerrard geben wird", wie Henderson vor kurzem selbst verlauten ließ. Liverpool wird die Nummer acht auf keinen Fall eins zu eins ersetzen können und wird daher auf das Kollektiv setzen.

Dennoch fällt ein ums andere Mal der Name Henderson, wenn es um das schwere Erbe geht. Rodgers versucht daher, den Druck von seinem Schützling zu nehmen: "Sie sind völlig verschiedene Spielertypen. Steven ist einer der besten Premier-League-Spieler aller Zeiten. Jordan ist jung, ein großartiges Talent. Die Vergleiche sind unangebracht."

Doch auch wenn Rodgers abwiegelt, gibt es - sportlich gesehen - durchaus Parallelen zwischen Henderson und Gerrard. Wie die Reds-Legende zeichnet sich auch Henderson durch seine Dynamik aus. Er verfügt über eine herausragende Athletik und absolviert in jeder Partie ein enormes Pensum.

In der Offensive wird Henderson wohl nie ähnlich viel Durchschlagskraft wie Gerrard besitzen. Dennoch hat er sich im vorderen Angriffsdrittel in den letzten vier Jahren verbessert und besitzt noch immer Entwicklungspotenzial in diesem Bereich.

Rakitic als Vorbild

Die Quervergleiche mit Gerrard werden Henderson wohl auch in den nächsten Jahren begleiten und gerade in der kommenden Saison allgegenwärtig sein. Wenn einer damit umgehen kann, dann der 22-malige Nationalspieler - Henderson gilt als bodenständig und charakterlich gefestigt.

Obwohl er selbst bereits über 200 Premier-League-Spiele auf dem Buckel hat, möchte sich Henderson stets weiterentwickeln und verbessern. Seine Teamkollegen aus der Nationalmannschaft schauten gemeinsam das Champions-League-Finale - Henderson zog sich lieber zurück und nutzte die Gelegenheit, in aller Ruhe Ivan Rakitic' Spielweise zu studieren: "Rakitic bekommt nicht so viel Aufmerksamkeit wie Neymar, Messi oder Suarez, aber er hat wahnsinnig großen Einfluss und erledigt die Drecksarbeit. Von ihm kann ich jede Menge lernen."

Der neue Kapitän?

Darüber hinaus verfügt Henderson über eine unglaubliche Arbeitsmoral, in dieser Hinsicht schaute er sich eine Menge von Luis Suarez ab: "Er war nicht nur ein brillanter Einzelspieler. Vor allem, was er für das Team geleistet hat, war wichtig: Für einen Spieler seiner Klasse betrieb er einen unglaublich großen Aufwand. Er hat nie eine Trainingseinheit oder ein Spiel verpasst. Er ist ein Fußballer, zu dem jeder aufblicken sollte, ein echter Gewinner", sagte er über seinen einstigen Teamkollegen.

Henderson hat sich inzwischen selbst zu einem Musterprofi entwickelt. Rodgers erkannte Hendersons Führungsqualitäten und ernannte ihn bereits im September zum Vizekapitän. Es wäre kaum verwunderlich, wenn er die Binde nun dauerhaft von Gerrard übernehmen würde. Für Henderson wäre dies mit Sicherheit eine große Ehre, dennoch konzentriert er sich aufs Wesentliche: "Das muss der Trainer entscheiden. Ich will nur eine gute Vorbereitung absolvieren."

Eine typische Henderson-Aussage. Persönliche Eitelkeiten stellt er in solchen Angelegenheiten zurück. Der Erfolg des Teams steht klar im Vordergrund, schließlich hat Henderson mit den Reds Großes vor: "Natürlich sind wir gut genug, um die Champions League zu erreichen. Aber ich denke auch, dass nächstes Jahr eines unsere Ziele sein muss, einen Titel zu holen." In turbulenten Zeiten eine weitere Nachricht, die die Fans des FC Liverpool gerne hören werden.

Jordan Henderson im Steckbrief