Englands Europa-Krise

Von Raphael Honigstein
Für Manchester United war im Achtelfinale gegen Real Madrid Endstation
© getty

Arsene Wenger bezeichnete das schlechte Abschneiden der englischen Mannschaften in der Champions League als "großen Weckruf", doch seine Kollegen in der Premier League waren anderer Meinung. "Das ist kein Thema, das Rad dreht sich wieder", meinte beispielsweise Rafael Benitez. Wer hat Recht?

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Fest steht zumindest, dass England seit 1995/96 zum ersten Mal ohne Viertelfinalist in der Königsklasse dasteht. Damals waren die Blackburn Rovers der einzige Vertreter gewesen.

Ist die Premier League also wieder in den Neunzigern angekommen? Auch damals boomte der Fußball auf der Insel. Es wurden wahnsinnige Gehälter und Transfersummen gezahlt, aber die besseren Mannschaften kamen aus Italien, Holland und Deutschland. Der englische Hurra-Stil war schlichtweg nicht Europapokal-kompatibel.

Man kann das alles aber auch anders, ein paar Nummern kleiner, sehen. Wenn vier Mannschaften vor dem Viertelfinale ausscheiden, hat das zunächst vier ganz spezielle Gründe. Manchester United fehlte schlichtweg das Glück. Die Red Devils waren im Rückspiel gegen Real Madrid das klar bessere Team, bis Nanis überflüssiger Platzverweis dem Match eine entscheidende Wende gab. Chelsea befindet sich im Umbruch. Arsenal hatte wie United großes Lospech. Und das galt für Manchester City erst Recht. Gegen Real Madrid und Dortmund wäre in der Vorrunde wohl so manche große Mannschaft rausgeflogen. Isoliert betrachtet hätte es für alle vier Klubs auch anders laufen können. Mit Galatasary und Malaga sind ja zwei Teams unter den letzten Acht, die in der englischen Liga bestimmt nicht unter die ersten Vier kommen würden.

Negativer Trend seit fünf Jahren

Das Problem an dieser Momentaufnahme ist allerdings, dass sie gleichzeitig einen viel größeren Trend bestätigt. Seit England vor fünf Jahren Europa wie nie zuvor dominierte - drei Mannschaften standen im Halbfinale, dazu gewann Manchester United in Moskau den Titel - ist es in der Gesamtwertung fast in einer geraden Linie kontinuierlich bergab gegangen.

2009 gab es auch drei Halbfinalisten, aber United wurde von Barcelona im Finale von Rom deutlich geschlagen. 2010 war für United und Arsenal im Viertelfinale Schluss. 2011 kam United ins Finale und wurde wieder von Barcelona vermöbelt, Tottenham und Arsenal schieden bereits im Viertelfinale aus. 2012 wurde Chelsea zwar höchst glücklich Champions League-Sieger, doch für Arsenal war der Wettbewerb im Achtelfinale vorbei gewesen, und City und ManUnited waren sogar schon in der Gruppenphase rausgeflogen.

So ein frühes Doppel-Aus war den zwei (1997/98), drei (1999/2000) oder vier englischen Mannschaften (2003/04) zuvor noch nie passiert. In diesem Jahr aber wiederholte sich das Malheur mit Chelsea und City, dazu kamen auch United und Arsenal nicht unter die letzten Acht.

Reiner Zufall ist das alles nicht, wie der "Guardian" in einer umfangreichen Daten-Analyse feststellte. Die Quote der gewonnen Spiele der vier PL-Teams lag mit 39 Prozent auf dem niedrigsten Wert seit 1995/96. Dazu passt die durchschnittliche Gegentreffer-Quote von 1,39 pro Partie - der schlechteste Wert seit 1998/99 (1,41) und die erschreckende Bilanz der Torschüsse: Die vier englischen Teams schossen insgesamt 269 aufs gegnerische Tor, mussten aber 345 Schüsse hinnehmen. Die Zahlen wären noch viel schlechter ausgefallen, wenn Chelsea im Heimspiel gegen Nordsjaelland (6:1) nicht 27 Mal auf den Kasten der Dänen geballert hätte.

In eine These übersetzt heißt das, dass englische Teams nicht mehr so gut verteidigen wie zuvor. Das hat sich auch schon in der heimischen Liga bemerkbar gemacht. Bis zum Jahreswechsel hatte selbst Tabellenführer Manchester United 28 Tore kassiert - fünf weniger als am Ende der Vorsaison.

Dominanz dank Benitez und Mourinho

Michael Cox von der Taktik-Seite zonalmarking.net hat eine gute Erklärung für die abnehmende Defensivkraft. "Englands Dominanz in Europa begann erst mit Rafael Benitez als Trainer von Liverpool und Jose Mourinho bei Chelsea", sagt er. "Beide sind ausgemachte Spezialisten im Europapokal, bei denen die Null im Vordergrund stand. Mit ihnen ging der PL auch das besondere Know-How verloren."

Die Ergebnisse geben Cox Recht: 2006/07 und 2007/08 - im Jahr von Mourinhos Demission - hatte die PL drei Halbfinalisten im Rennen. Doch seit Benitez' Liverpool nicht mehr in der Königsklasse spielt und die von Mourinho geschaffene taktische Identität von Chelsea mit jedem Trainerwechsel immer schwächer wurde, fehlt in der Breite die Qualität, um Jahr für Jahr mit drei, vier Mannschaften um den Titel zu spielen. Manchester United ist ein Ausreißer nach oben, City einer nach unten. Und Arsenal stellt exakt europäisches Mittelmaß dar: Die Gunners schafften es seit es 2009/10 nicht mehr unter die letzten Acht.

ManCitys Aufstieg und die Folgen

Es könnte allerdings noch einen zweiten großen Grund geben, warum die englischen Klub seit genau fünf Jahren in der Summe schwächer abschneiden: 2008 begann der Aufstieg von Manchester City mit der Übernahme durch die Herrscherfamilie aus Abu Dhabi. Es dauerte zwei Spielzeiten, bis es der Scheichklub in die Champions League schaffte, aber die Folgen wurden indirekt schon vorher spürbar. City brachte mit seiner aggressiven Einkaufspolitik das alte Kartell der "Big Four" (Arsenal, Chelsea, Liverpool, United), die sechs Mal in Folge zusammen in der CL spielten, gehörig durcheinander.

Arsenal war der Hauptleidtragende. Die Londoner verloren Emmanuel Adebayor, Gael Clichy, Kolo Toure und Samir Nasri an City und befinden sich nun quasi in einem kontinuierlichen Umbruch. Carlos Tevez wechselte innerhalb Manchesters die Seiten; mit David Silva, Kun Agüero und Edin Dzeko kauften die Hellblauen Kicker ein, die ansonsten höchstwahrscheinlich bei der englischen Konkurrenz gelandet werden.

Darüberhinaus versuchte City, Chelsea und United gezielt zu schwächen. John Terry und Wayne Rooney bekamen Irrsinnsangebote. Beide konnten nur durch einen hohen finanziellen Aufwand gehalten werden.

Europäische Konkurrenz holt auf

Wenn man dazu bedenkt, dass mit Robin van Persie (von Arsenal zu United) und Fernando Torres (Liverpool zu Chelsea) zwei absolute Schlüsselspieler innerhalb der Liga wechselten, sich also die Qualität nur umverteilte, und seit 2008 zwei weitere Schlüsselspieler - Cristiano Ronaldo und Cesc Fabregas - nach Spanien abwanderten, lässt sich insgesamt ein Verlust von Klasse attestieren.

Die englischen Top-Verein sind natürlich immer noch sehr gut. Aber im Vergleich mit der Situation vor fünf Jahren hat die Anzahl der absoluten Spitzenkräfte eher abgenommen. (Warum City es mit seinem Superstar-Kader nicht einmal in die K.o.-Runde schafft, ist allerdings eine andere Frage).

Der dritte entscheidende Faktor ist dagegen nicht hausgemacht. Die europäische Konkurrenz ist seit dem englisch-englischen Finale in Moskau schlichtweg besser geworden. Real Madrid war bis zu Mourinhos Amtsübernahme international erschreckend schwach: Sechs Mal in Folge wurden die Königlichen vor 2010/11 im Achtelfinale ausgeknockt.

Barcelonas Aufstieg zur absoluten Übermannschaft begann 2008/09, mit Pep Guardiola. Mit-Favorit Bayern war 2007/08 in der Europa League und ist erst seit 2010 wieder eine echte Macht. Dortmund spielt in dieser Saison zum ersten Mal seit 1998 eine gute Rolle. Und für Juventus war 2007/08 die erste Saison nach dem Wiederaufstieg in die Serie A.

2012/13 nicht die Regel, sondern Tiefpunkt

Rückblickend muss man die englische Dominanz mit drei Vereinen im Halbfinale von 2007/08 und 2008/09 als absolute Ausnahmesituation verstehen, die nur dank den Top-Trainern, der gefestigten Spitze der Big Four und der Schwäche der anderen großen Ligen zustande kommen konnte. Dieses Niveau konnte die Liga auf Dauer unmöglich halten.

Gleichzeitig stellt 2012/13, ohne englische Vertreter im Viertelfinale, nicht die neue Regel dar, sondern einen Tiefpunkt, von dem es mit Sicherheit wieder aufwärts gehen wird. Es muss schon eine Menge schief laufen, damit wieder zwei englische Klubs im nächsten Jahr in der Gruppenphase scheitern. Kommen alle vier wie erwartet weiter, verdoppeln sich automatisch die Chancen, zumindest mit einem Klub unter die letzten Acht zu kommen.

Unklar bleibt, ob es die PL aber auch schafft, bald wieder zwei oder drei Klubs als Topfavoriten ins Rennen zu schicken. Die unheimlich starke Konkurrenz in der heimischen Liga - und die damit einhergehende Preistreiberei bei Gehältern und Transfers - ist ein negativer Faktor, der das Plus der der ständig wachsenden Einnahmen zu einem gewissen Teil ausgleicht. Dieses Problem wird nur durch die Financial-Fairplay-Auflagen und eine bessere Jugendausbildung zu stemmen sein. Wer viele eigene Spieler ausbildet, hat mehr Geld übrig, ein, zwei absolute Weltklassesleute einzukaufen, die auf der internationalen Bühne den Unterschied machen.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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