Das neue Gleichgewicht

Von Raphael Honigstein
Die Gunners sind mit zwei Siegen und drei Remis in die Premier-League-Saison gestartet
© Getty

Der FC Arsenal kann in dieser Saison endlich wieder verteidigen - und das hat einen Grund: Mit Steve Bould hat Cheftrainer Arsene Wenger einen akribischen Arbeiter an seiner Seite, der auch die Offensivspieler zur Abwehrarbeit bewegt. Dazu trumpfen einzelne Spieler groß auf, allen voran Santi Cazorla. Sind die Gunners jetzt reif für einen Titel?

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Am Sonntag jährt sich ein Meilenstein in Arsenals Klubgeschichte zum 16. Mal: Arsene Wenger unterschrieb am 30. September 1996 seinen Vertrag bei den Gunners. Doch zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt muss der Elsässer das Jubiläum alleine begehen.

Sein Vorgänger und Assistenztrainer Pat Rice, den Wenger einst nach einem verlorenen UEFA-Pokal Spiel gegen Borussia Mönchengladbach (3:2, Torschützen Andrzej Juskowiak, Stefan Effenberg, Juskowiak) beerbte, ging diesen Sommer in Rente. Wenger wird darüber etwas traurig sein, die Arsenal-Fans sind jedoch überglücklich: Rices Abschied ist, so unglaublich das klingen mag, der vielleicht wichtigste Faktor für den guten Saisonstart der Londoner.

Alle mochten den von 1966 - 1980 für Arsenal tätigen Nordiren, der einen Steinwurf vom alten Highbury-Stadion als Sohn eines Gemüsehändlers aufwuchs. In der jüngeren Vergangenheit war der 63-Jährige jedoch ein wenig bequem geworden. Jene Detailarbeit auf dem Trainingsplatz, die Arsenal vor zehn, fünfzehn Jahren auszeichnete, war zunehmend Routine gewichen. Und da auf der Insel dem Wirken der Assistenztrainer eine besonders große Bedeutung zukommt - die quasi omnipotenten Manager leiten sehr selten persönlich die Übungseinheiten - war das beileibe kein theoretisches Problem.

Wenger erkannte, möglicherweise ein bis zwei Spielzeiten zu spät, die Misere und stellte Steve Bould ein. Der 49-Jährige bildete zusammen mit Tony Adams, Nigel Winterburn und Lee Dixon jene legendäre "Back Four", die Anfang der Neunziger Arsenals Ruf als defensivstärkstes Team auf der Insel begründete.

Bould - der heimliche Superstar

Der neue Mann an Wengers Seite hat in nur wenigen Wochen die Statik der Mannschaft entscheidend verändert. Arsenal kann plötzlich (wieder) verteidigen, und mit der Sicherheit einer funktionierenden Abwehr im Rücken spielt die ganze Mannschaft ruhiger, besser, effizienter. Bould ist nach sieben Pflichtspielen ohne Niederlage und nur vier Gegentoren der heimliche Superstar dieser Premier-League-Saison.

Hinter vorgehaltener Hand schwärmen die Arsenal-Spieler von seiner Arbeit. Da man weder Rice noch Wenger brüskieren will, hat sich fast niemand offen über das verbesserte Training geäußert. Ersatzmann Johan Djourou aber nahm nach dem 6:1 im Ligapokal gegen Coventry am Mittwoch kein Blatt vor den Mund.

"Steve arbeitet viel an der Formation des Teams, an der Raumaufteilung", sagte der Schweizer. "Seit Steve da ist, ist außerdem die Defensive nicht mehr auf sich allein gestellt. Die Jungs vorne arbeiten sehr hart - der Unterschied ist enorm." Seit den Tagen von Patrick Vieira habe man kann keine vergleichbare Stabilität in der Mannschaft gehabt, fügte Djourou hinzu.

Drei für Robin van Persie

Es hört sich einfach an. Aber man muss sich nur kurz an den Horrorstart vor zwölf Monaten erinnern - als Arsenal unter anderem bei Manchester United 8:2 verlor - um zu erkennen, wie positiv Boulds Einfluss ist. Die Abwehrspieler sehen individuell und im Kollektiv mindestens eine Klasse besser aus.

Per Mertesacker ist ein absoluter Leistungsträger; Rechtsverteidiger Carl Jenkinson, der vor einem Jahr wie ein Spieler einer besseren Pub-Mannschaft gewirkt hatte, hat sich am dramatischsten weiterentwickelt. Nationaltrainer Roy Hodgson hat dem 20-Jährigen eine Nominierung für das Qualifikationsspiel gegen San Marino nächsten Monat in Aussicht gestellt. Hodgson muss sich beeilen: Jenkinson könnte auch für Finnland antreten.

Zu der stabileren Grundausrichtung kommen sehr gute Verstärkungen. Wenger verlor Superstar Robin van Persie, der bei Arsenal alles war - Spielgestalter, Vorbereiter und Vollstrecker - und ersetzte den Niederländer folgerichtig mit drei Profis, die in der Summe eine ähnliche Wirkung erzielen. Lukas Podolski funktioniert mit seiner direkten, bulligen Art bestens im linken, offensiven Halbraum, Olivier Giroud zeigt immer mehr gute Ansätze.

Santi Cazorla brilliert im letzten Drittel

Santi Cazorla, 27, aber ist eine echte Sensation: der für schlappe 20 Millionen von Malaga gekaufte Zauberknirps dominiert das offensive Spiel der Gunner mit einer Brillanz, die Samir Nasri nur ab und an erreichte. Niemand spielte in der Premier League bisher mehr Pässe im letzten Drittel; von 158 Versuchen kamen 133 an. Der Spanier kam dabei nur mit viel Glück an die Themse: Arsenal hatte, wie Wenger kürzlich zugab, die von Lille verlangten 40 Millionen Euro für Eden Hazard auf den Tisch gelegt, in den Gehaltsverhandlungen mit dem Belgier jedoch gegenüber Chelsea den kürzeren gezogen.

Wenger sagt, ohne van Persie sei das Spiel seiner Elf "variabler" geworden. Das fiel erst schwer zu glauben. Doch nun, da selbst der nicht gerade mit übermäßiger Fußballintelligenz gesegnete Gervinho in der Sturmzentrale reüssiert, sind die Gunners tatsächlich schwerer auszurechnen. Vorne wird ständig rochiert, gekreuzt, improvisiert. Soviel Betrieb war seit langem nicht.

Nicht zuletzt ist allerdings auch ein weiterer Abgang für den Aufschwung verantwortlich. Als Alex Song im August zum FC Barcelona wechselte, rieben sich die meisten englischen Fußballreporter verwundert die Augen ("das ist der Anfang von deren Ende", witzelte ein Schreiber), während die Anhängerschaft des FC Arsenal den Transfer mit einem kollektiven Achselzucken quittierte.

Der 25-Jährige spielte zwar jedes fünfte Spiel einen Traumpass auf van Persie, stand dafür aber fünf Mal pro Partie tagträumend im falschen Raum. Er war nur auf dem Papier ein defensiver Mittelfeldspieler, und genau das war fatal: offensiv orientiertere Kollegen verließen sich auf ihn, obwohl er seinen Posten nie hielt.

Jack Wilshere in der Hinterhand

Diese Wochen muss Arsenal ohne einen (vermeintlichen) Spezialisten auf der "Sechs" auskommen. Aber Mikel Arteta füllt die Rolle mit einer Intelligenz und Disziplin aus, die höchstens der Playstation-Song auf sich vereinte. Mit dem nach vielen Verletzungen fitten Abou Diaby, einer Naturgewalt auf dem Level von Yaya Toure hat Arteta den perfekten Mann neben beziehungsweise vor sich. Beide sind zusammen besser, als Song es je war. Und mit Jack Wilshere kommt bald noch ein herausragender Mann für die Zentrale zurück.

Kein Wunder, dass die Arsenal-Fans nach acht Jahren ohne Titel sachte von Trophäen träumen. Ein Sieg im Derby gegen Chelsea am Samstag würde das Team zumindest als dritte Kraft hinter den beiden Manchester-Vereinen bestätigen. Ob es zu mehr reicht, hängt nicht zuletzt auch von Bould ab: er muss - anders als der passive Rice - das Training so geschickt dosieren, dass Arsenal von größeren Verletzungen verschont bleibt. Allzu viele Ausfälle kann dieser Kader nämlich ebenso verkraften wie vor zwei und vier Jahren, als Arsenal ähnlich gute Saisonstarts erwischte, am Ende aber mit leeren Händen dastand.

Der FC Arsenal im Steckbrief

Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.