"In der Kabine herrschte das blanke Chaos"

SID
Die Reds um Dietmar Hamann (2.v.l.) konnten ihr Glück beim CL-Finale 2005 kaum fassen
© Getty

Dietmar Hamann war 25, als er 1999 an die Mersey kam; sieben Jahre später verabschiedete er sich als umjubelter "Kaiser" und Kultheld aus Anfield. Im PLI-Interview spricht der selbsterklärte "deutsche Scouser" und frischgebackene Autor ("The Didi Man: My Love Affair With Liverpool") über die erfolgreiche Zeit bei den Reds, die geheime Faszination von Cricket und Giovanni Trapattonis beste Mannschaftsansprache überhaupt.

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SPOX: Herr Hamann, wie kam Ihr Wechsel nach Liverpool eigentlich zustande?

Dietmar Hamann: Gerard Houllier, der damalige Trainer, rief eines Tages bei mir an und sagte, dass er mich gerne verpflichten wollte. Ich war zu der Zeit nicht sehr glücklich bei Newcastle United und hatte schon gehört, dass Gerard mich haben wollte. Den ganzen Sommer aber passierte nichts, und die Situation wurde langsam brenzlig. In Newcastle demolierten erboste Fans mein Auto. Zum Glück einigten sich die Klubs kurz vor Saisonbeginn.

SPOX: Und wie kamen Sie zu Ihrem Ehrentitel "The Kaiser"?

Hamann: Anfangs hieß ich Baz, in Anlehnung an die Komikfigur Basil Fawlty von John Cleese, weil Michael Owen eine gewisse Ähnlichkeit - Bewegungsablauf, Kleidergeschmack - gesehen haben wollte. Später wollte mir Mike (Michael Owen) ein T-Shirt mit dem Aufdruck "The Kaiser" schenken, wie es der deutsche Billardspieler Ralf Souqet trug. Daraus ist nichts geworden, aber der Spitzname blieb.

SPOX: Wann wurde Ihnen klar, dass Liverpool ein besonderer Verein war?

Hamann: Ziemlich schnell. Die Stadt und der Klub haben etwas ganz Besonderes, das sich nicht leicht in Worte fassen lässt. Es gibt ein sehr starkes Gefühl des Zusammenhalts, ohne das ein Verein aus dem Nordwesten Englands bestimmt nie Europa dominiert hätte. Sicher gab es Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger gute Einzelspieler dort, aber Liverpool konnte nur wegen seiner ganz ausgeprägten "Wir nehmen es mit der ganzen Welt auf"-Mentalität bestehen, die über das rein Sportliche hinausgeht.

SPOX: Neben den historischen Triumphen sind auch die Stadion-Katastrophen von Hillsborough und Heysel ein wichtiger Bestandteil der Liverpooler Identität.

Hamann: Natürlich. Als Spieler merkst du das sofort, weil die Fans vor jedem Heimspiel vor dem Hillsborough-Denkmal am Stadion stehen und Blumen bringen. Wenn du dann das erste Mal mit der kompletten Mannschaft an der jährlichen Gedenkveranstaltung teilnimmst und dort die Hinterbliebenen der Opfer siehst, ist es sehr bewegend. In der Stadt kennt jeder jemanden, der unmittelbar betroffen war. Die Tragödie ist ständig präsent. Und die Beziehung zwischen Fans und Spielern ist einzigartig. Ich werde nie die stehenden Ovationen vergessen, mit denen ich ein paar Jahre später empfangen wurde, als ich mit Manchester City im Anfield spielte.

SPOX: Houllier gewann den Liga-Pokal, den FA-Cup und den UEFA-Cup. Aber seine Amtszeit wird sehr kritisch gesehen. Wie beurteilen Sie ihn als Trainer?

Hamann: Er hat den Verein auf die Landkarte zurück gebracht, das muss man ihm hoch anrechnen. Bevor er kam, drohte Liverpool im Mittelmaß zu versinken. Der Glanz und gute Ruf des Klubs war am verschwinden, genau wie der Glaube der Fans. Houllier brachte Liverpool mit seiner strengen Hand, ein paar guten Transfers und der Förderung von jungen Talenten wie Michael Owen, Jamie Carragher und Steven Gerrard zurück in die Spur. Dafür verdient er Hochachtung. Später, nach seiner Herzkrankheit, unterliefen ihm ein paar Fehlschüsse im Transfermarkt. Aber zu dem Zeitpunkt war die Mannschaft schon so gut, dass es auch nicht leicht war, echte Verstärkungen zu finden.

SPOX: Danach kam Rafael Benitez, den Sie im Buch als Genie bezeichnen.

Hamann: Ist er auch. Ich habe mit vielen Trainern gearbeitet, aber keiner versteht das Spiel so wie Benitez. Er arbeitet unheimlich viel mit Taktik und Formationen, und man sieht bei ihm immer die Handschrift. Es gab Spieler, die mit seiner etwas gefühlskalten Art nicht klarkamen, aber ich war niemand, der Streicheleinheiten brauchte. Für mich war wichtiger, dass ein Trainer erklären kann, wie man sich auf dem Rasen zu bewegen hat. Ich hänge noch heute, wenn ich ihn treffe und ihn über Fußball sprechen höre, an seinen Lippen. Der Mann hat es einfach.

SPOX: Aber vor dem Finale gegen den AC Milan in Istanbul (2005) unterlief ihm ein schwerer Fehler: Er stellte Sie nicht auf. Liverpool wurde in der ersten Halbzeit überrannt und lag 0:3 hinten.

Hamann: Ich hatte mit meinem Einsatz fest gerechnet und war natürlich enttäuscht, keine Frage. Aber Houllier hatte mir beigebracht, dass man als Spieler nie mehr als ein, zwei Minuten traurig sein darf - du musst hoch konzentriert bleiben und deine Gefühle ausblenden, weil du ja noch reinkommen kannst. Und so war es auch.

SPOX: Mit Ihnen kam nach der Pause die Wende. 3:3, Sieg im Elfmeterschießen. Ein Jahrhundertspiel.

Hamann: Ehrlich gesagt hatte ich nicht wirklich daran geglaubt. In der Halbzeit hatte das blanke Chaos in der Kabine geherrscht. Als ich zum Anstoßkreis ging, lief mir auf einmal Djimi Traore über den Weg, den Rafa kurz zuvor zum Duschen geschickt hatte. Ich konnte es nicht glauben. Standen wir jetzt mit zwölf Mann auf Platz? Ich hatte selbst noch gesehen, wie Djimi in die Dusche gegangen war. Carragher klärte mich dann auf, dass Steve Finnan wegen einer Verletzung draußen geblieben war und Rafa den halbnackten Djimi wieder zurück beordert hatte. Das ganze kommt mir heute noch unwirklich vor.

SPOX: Denken Sie manchmal noch an das verlorene WM-Finale 2002 und Ihre vergebene Chance zurück?

Hamann: Mittlerweile selten, obwohl ich mich heute noch ärgere, dass ich damals nicht getroffen habe. Ich bekomme den Ball nach 60 Minuten 20 Meter vor dem Tor...

SPOX:...beim Spielstand von 0:0...

Hamann: In so einer Situation geht der Ball in acht von zehn Schüssen aufs Tor und drei, vier davon sind drin. Mich hat im letzten Moment das gestreckte Bein von Lucio irritiert. Die Szene ist mir später lange durch den Kopf gegangen. Die Woche nach dem Finale konnte ich überhaupt nicht schlafen.

SPOX: Eine schlaflose und dazu auch noch teure Nacht hatten Sie, als Sie bei einer Wette auf ein Cricketspiel 345.000 Euro verloren hatten. Danach, schreiben Sie, wurde Ihnen bewusst, dass es so nicht weitergeht.

Hamann: Richtig.

SPOX: Aber warum eigentlich Cricket? Ist das nicht der langweiligste Sport der Welt?

Hamann: Ganz im Gegenteil. Da steckt unheimlich viel Taktik und Strategie drinnen. Wer bowlt zuerst, mit welcher Technik... Es wird auch unterschätzt, wie schwierig es ist. Mich hat Freddie Flintoff (ehemaliger englischer Cricketnationalspieler) einmal mit auf den Platz genommen: die Bälle fliegen dir da mit 100 Stundenkilometern entgegen und du hast kaum Zeit, zu reagieren. Ich schaue da unheimlich gerne zu.

SPOX: Ein Gerücht besagt, dass Sie selbst spielen.

Hamann: Ja, das stimmt. Ich springe ab und zu in der zweiten Mannschaft meines Dorfklubs in Alderley Edge ein. Mit mäßigem Erfolg.

SPOX: Sie sind ein echter Engländer geworden. Im Pferdesport kennen Sie sich auch aus, sagt man.

Hamann: Nun ja. Ich habe mit Michael Owen, der ein begeisterter Pferdezüchter ist, und mit zwei Freunden einmal ein Rennpferd gekauft.

SPOX: Wie hieß es?

Hamann: Es hatte keinen Namen, weil es die Rennbahn letztlich leider nie gesehen hat. Nach ein paar Testläufen war klar, dass es zu langsam ist. Tja. Es war eine Lehre.

SPOX: Zum Abschluss würde ich Sie noch bitten, eine legendäre Trapattoni-Anekdote aus dem Buch nachzuerzählen.

Hamann: Ok. Nach einer Niederlage rief er uns einmal auf dem Bayern-Trainingsgelände zusammen und befahl uns, im Mittelkreis Platz zu nehmen. Er redete in typischer Trap-Manier energisch auf uns ein. "In zwei Tage müsse wir Fans zeigen, dass..." Er unterbrach sich, ihm fiel das Wort nicht ein. Dann griff er sich an die Hose und sagte "Cojones!" Er bat, Giovane Elber zu übersetzen: "Giovane, was heißt auf Deutsch?" "Muschi", erwiderte Elber blitzschnell. Trap war nun in seinem Element. "Ja, wir müsse de Fans Muschi zeigen. Wir sagen ihnen 'Schau her, wir haben Muschi'. Muschi, Muschi, Muschi, ich will Muschi sehen!" Einige von uns hatten das Trikot über den Kopf gezogen, um sich zu beherrschen, wir machten uns praktisch in die Hosen. Aber wir konnten das Lachen nicht mehr länger unterdrücken und brüllten los. Als Trap am Ende von Elber kleinlaut aufgeklärt wurde, fing er selber an, hysterisch zu lachen. Er war ein ganz Großer.

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Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 18 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 37-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.com tätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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