Erinnerungsfotos mit Iron Maiden

Von Carsten Germann
Rio, Ferdinand, Frank, Lampard
© Getty

London/München - Der Chef hat erst am späten Nachmittag Zeit. In Englands größter Talentschmiede ist alles bis ins Detail geregelt.

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Im beschaulichen Chadwell Heath in Romford in Essex unterhält der Londoner Premier-League-Klub West Ham United sein Trainingsgelände. Hier ist auch die "Academy of Football" zuhause.

Täglich trainieren rund 130 Spieler zwischen neun und 18 Jahren auf sechs Plätzen und Kleinfeldern, bei deren Anblick der selbst der Platzwart des Wembleystadions vor Neid blass werden dürfte.

Über allem steht Tony Carr (58), seit 1973 Direktor des berühmtesten Talentschuppens auf der Insel. West Ham United könnte für diesen Posten sicherlich keinen besseren Mann finden als den stets höflichen Herrn mit dem graumelierten Haar und den buschigen Augenbrauen. Ein Fuchs.

Schuhputzer der Weltmeister

Denn Tony Carr kennt das Geschäft und es macht ihm Spaß über die Akademie zu sprechen und auch das eine oder andere Geheimnis der Talentschmiede preis zu geben. Als Jugendspieler kickte "TC" selbst für den Eisenwerkerklub aus dem Londoner East End, ehe ihm ein Beinbruch die große Profi-Karriere verbaute.

Carr putzte West Hams Weltmeistern Geoff Hurst, Bobby Moore und Martin Peters die Fußballschuhe. Das ist ungeschriebenes Gesetz für englische Nachwuchskicker. Auch seine beiden Musterschüler Frank Lampard und Rio Ferdinand (v.r., im großen Bild), so verrät Tony Carr, seien um diese Tätigkeit nicht herum gekommen und durften als Jugendliche die Buffer von Paolo di Canio und Trevor Sinclair auf Hochglanz bringen.

Lampard und Ferdinand: Die Musterknaben

An Frank Lampard und Rio Ferdinand hat Tony Carr die besten Erinnerungen: "Frank Lampard ist ein Spieler, der sehr hart an seiner eigenen Entwicklung gearbeitet hat, er hat sein Spiel radikal verbessert und das hat ihn zu der Persönlichkeit gemacht, die er heute ist."

Rio Ferdinand, der Abwehrchef von Manchester United, kommt in der Beurteilung durch seinen Entdecker noch besser weg: "Bei Rio war es anders als bei Frank", erklärt Tony Carr, "er war der geborene Fußballer. Sein Hunger und sein Drive haben ihn ganz nach vorn gebracht."

Über Lampard und Ferdinand plaudert Talent-Papst Carr am Liebsten. "Beide waren als 17- oder 18-Jährige immer unzufrieden, wenn sie im Jugendteam spielen mussten und nicht bei den Profis mitmischen durften, es konnte ihnen alles gar nicht schnell genug gehen. Ich habe diesen Ehrgeiz bewundert."

"Zeigen, was man drauf hat"

Gegenüber SPOX.com nennt Tony Carr einige Erfolgsfaktoren von West Hams Akademie und er versucht, die Schwerpunkte in seiner täglichen Arbeit mit den Stars von morgen aufzuzeigen. "Von Klein auf steht bei der Ausbildung die Technik im Mittelpunkt", erläutert Carr, "wir wollen, dass die Spieler uns von Anfang an zeigen, was sie drauf haben. Wenn sie dann älter werden, versuchen wir, einen Angriffsstil zu lehren und die Jungs zu ermutigen, ihre eigene Spielweise zu pflegen und nicht nur unsere Befehle auszuführen."

Und das am Besten ohne Erfolgsdruck. "Für einen jungen Spieler ist das Gewinnen um jeden Preis gar nicht entscheidend", glaubt Tony Carr, dessen West Ham-Bubis 1981 und 1999 den englischen Jugendpokal holten, "viel wichtiger ist, dass man seine Persönlichkeit erkennt und formt."

Knallharter Wettbewerb

Die Erfolgsstory der West Ham United Academy wäre nicht komplett ohne Jimmy Hampson, den legendären Chefscout der Londoner. "Jimmy ist sehr wichtig für die Akademie", so die Einschätzung von Tony Carr, "er holt die jungen Spieler rein, vornehmlich aus der Region Essex und aus dem Londoner Osten."

Der Wettbewerb in London ist sehr hart. "Der Kampf um die jungen Talente beginnt sehr früh", sagt Carr, "aber wir haben eine gute Nase für Spieler. Dazu kommen gutes Personal, maßgeschneidertes Coaching und exzellente Rekrutierung. Das macht unseren Erfolg aus."

Talentsuche im TV

Weitaus weniger hält Carr von einer Talentsuche mit Hilfe des Fernsehens.

Denn in England hat der Castingwahn auch vor dem Fußballgeschäft nicht Halt gemacht. Im Juni 2005 suchte der FC Chelsea mit dem Sender Sky One erstmals in der Show "Football Icon" Englands nächstes Super-Talent.

Jose Mourinho gab den Bohlen und Sieger Sam Hurrell (heute 19) durfte zwei Jahre im Nachwuchsteam an der Stamford Bridge kicken, ehe er im Juli 2007 wieder nach Hause geschickt wurde.

"Diese Sendung war sicherlich gute Unterhaltung, aber so findest du keinen Fußballer mit Qualität", kritisiert Tony Carr das Format. Die Frage nach dem nächsten Superstar aus der West Ham Academy beantwortet Carr dagegen ohne Zögern: "Das wird James Tomkins sein. Er ist der Kapitän der englischen U-19-Nationalmannschaft und wird in den nächsten Jahren eine sehr gute Entwicklung nehmen."

Die Besten der Premier League

Die Liste der namhaften Absolventen der West Ham United Academy ist lang. Joe Cole vom FC Chelsea gehört ebenso dazu wie Jermain Defoe (Tottenham Hotspur), Michael Carrick (ManU), Glen Johnson (FC Portsmouth) oder die einstigen West Ham-Stars Tony Cottee und Paul Ince.

Im Mai 2005 landen West Hams "junge Wilde" einen ihrer größten Erfolge: Beim Wiederaufstieg in die Premier League gehörten mit Chris Cohen, Anton Ferdinand, Greg Pearson, Elliott Ward und Bobby Zamora gleich fünf Spieler aus der eigenen Jugend zum Stammpersonal.

In über 30 Berufsjahren arbeitete Tony Carr in der West Ham Academy aber auch mit einem der prominentesten Fans der East Enders zusammen. Steve Harris (52), Bassist und Gründer der weltberühmten Heavy-Metal-Band Iron Maiden ("The Number of the Beast"), spielte in der Jugend für die "Hammers."

"Steve ist ein großer Anhänger von West Ham, aber als Musiker war er um Klassen besser denn als Fußballer", urteilt Carr über seinen einstigen Schüler, der seine Leidenschaft für den FA Cup-Finalisten von 2006 bis heute auf der Bühne zur Schau trägt.

Futter für die "Big Guns"

Tony Carr und sein Team förderten viele Eigengewächse, doch nur die wenigsten konnte West Ham United langfristig halten. Der chronisch klamme Europacupsieger von 1965 wurde zum "Feeder Club" - zum Fütterer der Großen ("Big Guns") in der First Division und später in der Premier League.

"Zweifellos hat West Ham in den letzten Jahren eine ähnliche goldene Generation hervorgebracht wie der große Rivale Manchester United, aber durch die jahrzehntelange Misswirtschaft und aufgrund fehlender Konzepte mussten immer wieder Stars verkauft werden", begründet der Autor Lashias Ncube in einer Kolumne den Ruf der "Hammers" als Ausbildungsverein.

Dafür brachten die Jungstars mächtig Kohle: Allein der Transfer von Rio Ferdinand (zu Leeds United) bescherte West Ham im Jahr 2000 einen Erlös von 26 Millionen Euro. "Ich denke, es ist sehr frustrierend, wenn man sieht, dass die Spieler, die man selbst entdeckt hat, abgegeben werden", sagt Tony Carr, "aber es macht mich auch stolz, dass ich ihr Spiel beeinflussen konnte, als sie jung waren."

In Zukunft soll West Ham jedoch kein Lieferant mehr für die Großen sein. "Die neuen Klub-Besitzer aus Island haben den Verein auf eine bessere ökonomische Basis gestellt, die es uns leichter machen wird, junge und hoch talentierte Spieler zu halten", glaubt Carr.

Korb von David Beckham

West Ham United war zu Beginn der Sechzigerjahre neben dem FC Liverpool einer der ersten englischen Vereine, der es verstand, in sein Jugendsystem zu investieren und auf Spieler aus der Hauptstadtregion zu setzen.

Nur bei David Beckham hat es nicht geklappt. "Wir wollten ihn, haben ihn gescoutet, aber er wollte von Anfang an zu Manchester United, weil sein Vater ein echter Cockney Red, ein ManU-Fan aus London, ist", sagt Tony Carr lächelnd, "man kann sie eben nicht alle kriegen."

Der Konkurrenzkampf in den englischen Fußball-Akademien ist groß. Drei Viertel der 16-Jährigen, so ermittelte das Fußballmagazin "FourFourTwo", die als Schüler zu den Klubs kommen, verlassen den Profi-Fußball innerhalb von vier Jahren.

Wer es bei West Ham United nicht schafft, so meinen Spötter, kann sich zum Abschied im Fan-Treff "Centenary Bar" wenigstens mit einem wertvollen Souvenir fotografieren lassen: Mit den Goldenen Schallplatten von Iron Maiden.

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