Andres Escobar: Der Mann, der ein Eigentor mit dem Leben bezahlte

Andres Escobar erzielte bei der WM 1994 sein folgenschweres Eigentor.
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Am 2. Juli 1994, also heute vor 25 Jahren, wurde Andres Escobar ermordet. Ein Eigentor bei der Weltmeisterschaft in den USA wurde dem kolumbianischen Verteidiger zum Verhängnis.

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22. Juni 1994. Im kalifornischen Pasadena steigt die Vorrunden-Partie des 2. Spieltags zwischen WM-Gastgeber USA und Kolumbien. Es läuft die 34. Minute.

Die Amerikaner bringen den Ball von der linken Seite flach in den Strafraum, Escobar grätscht, bugsiert die Kugel unglücklich an seinem Torhüter vorbei in die eigenen Maschen zum 0:1. Kolumbien unterliegt letztlich mit 1:2 und ist damit ausgeschieden.

"Mami, sie werden ihn umbringen", platzt es aus einem kleinen Jungen namens Felipe heraus, der in der kolumbianischen Heimat vor dem Fernseher sitzt. Das Kind behält tragischerweise Recht. Zehn Tage später ist sein Onkel Andres tot.

Ermordet, geradezu hingerichtet, mit mehreren Schüssen aus einem Revolver auf dem Parkplatz vor der Diskothek "El Indio" in Medellin. "Eigentor, Andres, Eigentor", sollen seine Mörder im Moment ihrer Tat laut Augenzeugen gerufen haben. Ein ironisches "Goooool" hätten sie dem blutüberströmten 27-Jährigen entgegengeschrien, behaupten andere.

Mord wegen eines Eigentors: Wie konnte es soweit kommen?

Kolumbien befand sich Ende der 80er Jahre und in den 90er Jahren in einer chaotischen Lage. Das südamerikanische Land wurde permanent von Guerillakämpfen erschüttert, mächtige Drogenbosse gaben den Ton an. Mittendrin in den Fängen der Mafia: König Fußball.

Männer wie "Kokain-Papst" Pablo Escobar, der mit der Zeit zum Staatsfeind Nummer eins wurde und im Dezember 1993 von einer Elite-Einheit erschossen wurde, betrachteten den Fußball als Spielzeug und Instrument zur Geldwäsche.

Jeder Drogen-Boss, der etwas auf sich hielt, war damals quasi in Besitz eines Klubs. Die Spieler wurden für ihre Dienste fürstlich entlohnt, bewegten sich aber zwangsläufig in Kreisen, in denen es fast zum Alltag gehörte, über Leichen zu gehen.

Kolumbien ging als Geheimfavorit in die WM 1994.
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Kolumbien ging als Geheimfavorit in die WM 1994.

Drogen-Bosse platzieren millionenschwere Wetten

Rund um die Nationalmannschaft entstand vor und während der WM 1994 in dieser Gemengelage eine Situation, die alles andere als leistungsfördernd war.

Die Drogen-Bosse setzten bei Wetten Millionen auf das Weiterkommen von "Los Cafeteros". Im Teamhotel tummelten sich unzählige im Wahlkampf befindende Politiker, Spielerberater und sonstige Promis, die sich im Glanz des Nationalteams sonnen wollten.

Die Hoffnungen eines ganzen Landes, von Verbrechern über Staatsmänner bis hin zum gewöhnlichen Volk, lagen auf den Schultern der Spieler.

Und diese Hoffnungen schienen begründet: Kolumbien hatte mit seiner goldenen Generation um den Wuschelkopf Carlos Valderrama in der Quali mit 5:0 in Argentinien triumphiert. Kein geringerer als Brasiliens Fußball-Ikone Pele ernannte die Kolumbianer nach 26 Spielen mit nur einer Niederlage zum Geheimfavoriten auf den Titel.

Presse hetzt: "Diese Leistung ist ein Verbrechen"

Doch es kam völlig anders. Kolumbien unterlag gleich zum Auftakt krachend mit 1:3 gegen Rumänien, in der Heimat rasteten daraufhin die ersten Menschen aus dem kriminellen Milieu aus.

Die Mannschaft erhielt Morddrohungen. Der Bruder von Torhüter Oscar Cordoba wurde in der Heimat mutmaßlich von der Drogen-Mafia, die große Wettverluste fürchtete, ermordet aufgefunden.

Es folgte die folgenschwere Niederlage mit Escobars Eigentor gegen die USA, der 2:0-Sieg im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz hatte keinerlei Bedeutung mehr.

In Kolumbien rumorte es nun noch mehr, die hetzerische Presse kippte zusätzliches Öl ins Feuer. "Wir sind erniedrigt worden", "Kolumbien hat sich vor der ganzen Welt lächerlich gemacht" und "Diese Leistung ist ein Verbrechen", waren die bestimmenden Schlagzeilen.

Escobar: "Das Leben endet nicht hier"

Einer, der sich um Deeskalation bemühte, war Eigentorschütze Escobar. "Das Leben endet nicht hier", sagte der 50-malige Nationalspieler Kolumbiens, der damals in seiner Heimatstadt Medellin bei Atletico Nacional unter Vertrag stand.

Er reiste trotz Warnungen einiger Mitspieler nach der WM zurück nach Medellin, um seine Verlobte zu heiraten. Danach, so bahnte es sich an, würde er zum AC Mailand wechseln. Doch die Situation eskalierte.

Zwar hatten viele Schuld am kolumbianischen Fußball-Fiasko, so teuer wie Escobar bezahlte aber keiner. Die Brüder Santiago und Pedro Gallon, in Geldwäsche und Drogengeschäfte verwickelt, zettelten den Streit, der zur Ermordung Escobars vor der Diskothek in Medellin führte, an.

Sie gelten auch bis heute als die Auftraggeber des Mordes. Letztlich wurde aber nur deren Fahrer Humberto Munoz zur Rechenschaft gezogen, der die Schüsse abgefeuert hatte. Dieser wurde zu 43 Jahren Haft verurteilt, kam aber bereits 2005 nach elf Jahren wegen guter Führung wieder auf freien Fuß.

"Die Gallons haben Geld, Macht und Freunde im Staat", gestand 2014 ein den Fall begleitender Staatsanwalt der Zeitung El Espectador ernüchtert.

Andres Escobar wird als Held verehrt

Der Fall Escobar gilt im heutigen Kolumbien, das immer weniger mit dem Land von damals zu tun hat, als mahnendes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die falschen Leute zu viel Macht haben.

Bei Escobars Beerdigung erwiesen ihm rund 120.000 Menschen die letzte Ehre. Es gibt zahlreiche Dokumentationen über ihn, noch heute gibt es Fanklubs, die Escobars Namen tragen. Sein Foto ist bei Spielen der kolumbianischen Nationalelf häufig auf den Tribünen zu sehen.

Escobar wird als Held verehrt und galt Zeit seines Lebens als aufrichtiger, anständiger junger Mann. In seiner Heimat ist er als "caballero del futbol" berühmt. Der Fußball-Gentleman. Ein Gentleman, der ein Eigentor heute vor 25 Jahren mit dem Leben bezahlte.