Angst vor dem erneuten Restart

Von Florian Bogner
Die Selecao muss sich drei Jahre vor der Heim-WM bei der Copa America (2. bis 24. Juli) beweisen
© Getty

Brasilien hat vor der Heim-WM 2014 nicht nur Probleme mit der Infrastruktur, auch in der Selecao läuft wenig rund. Bei der Südamerikameisterschaft muss jetzt ein runderneuertes Team die Nation hinter sich bringen - sonst droht erneut die Stunde Null.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Nein, um die eher plumpe Außendarstellung beneidet man das WM-Land Brasilien - und seine Nationalmannschaft im Speziellen - dieser Tage wirklich nicht. In einer Reihe ernüchternder Meldungen rund um die WM-Planungen und den Neuaufbau der Selecao war der Fauxpas von Marcelo zumindest einen Lacher wert.

Ganz Brasilien hatte sich Anfang Juni verwundert den Kopf gerieben, warum Nationaltrainer Mano Menezes bei der Vorstellung des vorläufigen Kaders für die Südamerikameisterschaft (2. bis 24. Juli) auf Marcelo, den formstarken Linksverteidiger von Real Madrid, verzichtet hatte.

Email (nicht) für Dich!

Die Antwort gab Menezes diese Woche selbst: Marcelo hatte im Vorfeld eines Testspiels gegen Schottland im März offenbar eine Rückenverletzung vorgetäuscht und daraufhin eine Email verfasst, in der er seinem Arbeitgeber Real erklärte, dass das "Problem mit der Selecao" gelöst sei und er somit Madrid zur Verfügung stünde.

Diese Email schickte Marcelo aber dummerweise nicht an seinen Verein, sondern an Menezes. Und da Dummheit bestraft gehört, darf der 23-Jährige die Copa America nun im Fernsehen verfolgen.

"Für mich und die Fans ist die brasilianische Nationalmannschaft das Wichtigste. Ich will, dass alle Spieler so fühlen", sagte Menezes beleidigt und stellte klar: "Niemand verzichtet nur aus Antipathie auf einen Spieler, der so gut spielt wie Marcelo momentan."

Damit hat er zweifelsfrei Recht. Ob der 49-Jährige jedoch mit seiner Aussage über den Stellenwert der Selecao bei den Fans richtig liegt, darf arg bezweifelt werden.

"Die Selecao ist seit dem WM-Aus in der Öffentlichkeit in Misskredit geraten. Die Arbeit von Menezes ist mehr als umstritten, die Mannschaft hat sich vom Volk entfremdet", bestätigt Mario Andre Monteiro, Journalist bei Brasiliens Webportal "IG", im Gespräch mit SPOX.

B-Lösung will Wünsche erfüllen

Eigentlich sollte nach der erfolgreichen Bewerbung um die WM 2014 Aufbruchsstimmung in Brasilien entfacht und ein Umbruch eingeleitet werden. "Wir müssen eine neue Selecao formen", hatte Verbandspräsident Ricardo Teixeira nach dem WM-Aus 2010 gefordert.

Teixeira rechnetet zum Beweis vor: "Deutschland hat neun Spieler unter 23 Jahren. Ghana hat elf, Spanien sechs. Wir haben einen." Seine Zielsetzung: Mit neuen Stars soll eine dritte "goldene Generation" heranwachsen, die die Erfolge früherer Jahre (1958-1970 und 1994-2002) bei der Heim-WM wieder aufleben lassen sollen.

Den ersten Fehlschlag hatte der CBF-Präsident dann aber prompt selbst zu verantworten: Nach der Entlassung von Trainer Carlos Dunga sagte Teixeiras Wunschkandidat Muricy Ramalho trotz öffentlichen Werbens des Verbandes ab.

Der frühere Fitnesstrainer Menezes, der sich bei seinen vorherigen Stationen bei den Corinthians und Gremio Porto Alegre nicht gerade den Ruf eines Welttrainers verdient hatte, musste so das schwere Erbe von Carlos Dunga mit dem Prädikat "B-Lösung" antreten.

Immerhin füllte er seine Antrittsrede gleich mit einer gehörigen Portion Pathos: "Ich will den brasilianischen Fußball zu früherem Glanz zurückführen und Träume wahr machen. Ich werde eine Mannschaft formen, die in der Lage ist, im Stadion all unsere Ansprüche und Wünsche zu erfüllen."

"Er nominiert nur Spieler, die er mag"

Seine Ankündigung setzte Menezes bislang allerdings nur bruchstückhaft um. Auf dem Papier hat er seinen Kader, den er für die Copa America bekannt gab, gegenüber der WM von 28,7 Jahren auf 26,0 im Schnitt verjüngt. Mit Julio Cesar, Dani Alves, Lucio, Luisao, Maicon, Thiago Silva, Elano, Ramires und Robinho sind auch gerade mal neun WM-Fahrer übrig geblieben.

Mit Kaka, Michel Bastos, Luis Fabiano und Nilmar befinden sich nur noch vier weitere WM-Teilnehmer im Dunstkreis der Selecao. Der Rest wurde gnadenlos aussortiert. Menezes' Auswahlkriterien stoßen in Brasilien dennoch auf Unverständnis. "Mano nominiert nur Spieler, die er mag. Viele Brasilianer sind mit seiner Auswahl überhaupt nicht einverstanden", klagt Journalist Monteiro an.

Lazios Hernanes, der bei Menezes nach einem Platzverweis im Testspiel gegen Frankreich in Ungnade gefallen ist, fehlt beispielsweise ebenso wie Europa-League-Sieger Hulk (FC Porto), Renato Augusto (Bayer Leverkusen) oder die schon genannten Primera-Division-Stars Kaka (Real Madrid) und Nilmar (FC Villarreal).

Ronaldinho, Neves und Co.: totgesagte Heilsbringer?

Dass die Hoffnungen diesmal auf den schmalen Schultern der Jungspunde Ganso, Neymar und Pato liegen, ist ein Fingerzeig - aber auch ein schmaler Grat. Fällt die Selecao im Feindesland Argentinien durch, werden einige Spieler schon drei Jahre vor der WM ihre Chance verspielt haben und in der brasilianischen Öffentlichkeit als verbrannt gelten.

Wie hin- und hergerissen zwischen Jugendwahn und Altbewährtem Menezes selbst ist, bewies er Anfang des Jahres mit der Nominierung von Ronaldinho. "Wenn er seine Fans bei Flamengo überzeugt, dann wollen sie ihn auch in der Selecao sehen. Sollte das passieren, wird ihn auch der Trainer in der Nationalmannschaft sehen wollen", so Menezes Meinung über den Dribbelkünstler.

Auch wenn Heimkehrer wie Luis Fabiano (FC Sao Paulo), Gilberto Silva (Gremio Porto Alegre), Alex (Corinthians) und Brandao (Cruzeiro Belo Horizonte) bei der Copa nicht dabei sind, hat sich die Anzahl der in Brasilien beschäftigten Spieler im Vergleich zur letzten WM von drei auf sechs (Victor, Elano, Lucas, Neymar, Ganso, Fred) erhöht.

Selbst der totgesagte Ex-Hamburger Thiago Neves profitierte bereits mit einem Länderspieleinsatz vom Umdenken. Sich in Brasilien für die Selecao empfehlen zu wollen, lohne sich seiner Ansicht nach wieder: "Hier steht ein Spieler mehr im Blickpunkt." Außerdem sei ein gut bezahlter Spieler in Brasilien nicht mehr weit vom europäischen Gehaltsniveau entfernt.

Offensive? Fehlanzeige!

Die Länderspielbilanz unter Menezes liest sich trotzdem ernüchternd. Fünf Siege aus neun Spielen sind passabel, die Torausbeute von nur zehn Treffern nicht. Gegen Schwergewichte wie Argentinien (0:1), Frankreich (0:1) und die Niederlande (0:0) traf der Weltranglisten-Dritte gar nicht ins Netz.

Als vorläufiger Tiefpunkt gilt dabei die als WM-Revanche verkaufte Partie gegen die Elftal am 4. Juni: Die Selecao wird im eigenen Stadion gnadenlos ausgepfiffen. Teile des Publikums rufen gar: "Gebt uns unser Geld zurück!"

"Es ist traurig, ausgebuht zu werden", sagt Jungstar Neymar hinterher bedröppelt. Torhüter Julio Cesar meint zerknirscht: "Die Selecao befindet sich im Umbau, da muss man ein bisschen mehr Geduld haben."

Copa, Olympia, Confed-Cup

Der letzte Kick vor der Südamerika-Meisterschaft gegen Rumänien (1:0) war angesichts des Ronaldo-Abschieds indes als Test unbrauchbar.

So reist die Selecao mit gemischten Gefühlen nach Argentinien. "Die Mannschaft steht unter dem Druck, die Copa gewinnen zu müssen", sagt Monteiro und orakelt: "Geht die Copa schief, könnte das auch das Ende für Menezes sein."

Zeit für einen erneuten Restart hat die Selecao dann zwar noch genug. Doch auch wenn die WM-Qualifikation mit bekanntlich 18 Spielen in Südamerika bis 2014 wegfällt, wird man gut beschäftigt sein: 2012 steht Olympia in London (U 23) auf den Plan, 2013 der Confed-Cup als WM-Generalprobe, bei dem man den Titel-Hattrick anstrebt.

Vielleicht hat Marcelo bis dahin dann auch das Senden von Emails gelernt.

Termine, Ergebnisse, Tabellen: Copa America 2011 im Überblick