Rendezvous mit der unbewältigten Vergangenheit

SID
Im Finale 1998 gewann Frankreich (in Blau) gegen Brasilien mit 3:0
© Getty

Für Brasilien wird der Test am Mittwoch in Paris gegen Frankreich mehr als ein Fußballklassiker. Es ist die traurige Reise zurück zum Endspiel der WM-Endrunde 1998, als die Selecao der gastgebenden Equipe Tricolore beim 0:3 kaum Widerstand leistete. Bis heute liegt auf dem Finale der Schatten von Ronaldos mysteriösen Krampfanfällen.

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Im Zimmer 290 des Chateau de Grande Romaine erinnert nichts mehr an die Geschehnisse des 12. Juli 1998. Das Bett, auf dem sich Brasiliens Wunderstürmer Ronaldo wenige Stunden vor dem Anpfiff des WM-Finales vor Krämpfen schüttelte, wurde längst ausgetauscht. Heute beherbergt das Hotel im verschlafenen Örtchen Lesigny Kinder auf Landausflügen.

Knapp 40 Kilometer nordwestlich hatte Brasilien am Mittwoch im Stade de France sein Rendezvous mit der unbewältigten Vergangenheit. Der Stachel des 0:3 in jener Nacht gegen die am Zuckerhut als schlagbar eingestuften Franzosen sitzt immer noch tief. Vor allem, weil der mysteriöse Vorfall im Selecao-WM-Quartier das Endspiel wohl schon vor dem Anpfiff zugunsten der Les Bleus entschieden hatte.

"Tracht Prügel eingesteckt"

Der Schleier, der über den Ereignissen liegt, heben sich nur langsam. "Ich habe mich schlafen gelegt. Als ich aufwachte, fühlte ich mich, als hätte ich eine Tracht Prügel eingesteckt." Mit diesen Wort beschrieb Ronaldo laut Zico seinen Zustand nach der Konvulsion.

Der ehemalige Weltklassespieler Zico, damals Sportlicher Direktor der Canarinhos, brach als einer der wenigen Beteiligten die Mauer des Schweigens und ist sich sicher: "Wenn das einen Tag vorher passiert wäre, hätte sich das Team von dem Schock erholt." So aber war die Konzentration auf das wichtige Spiel weg, das Unheil nahm seinen Lauf.

Während der Mannschaftsbus sich zum Stade de France aufmacht, fährt Ronaldo, der bis dato vier Tore im Turnier erzielt hatte, ins Krankenhaus. Kurz vor Spielbeginn stürmt Brasiliens großer Hoffnungsträger in die Umkleidekabinen. "Ich habe die ganze WM gespielt. Die Untersuchungsergebnisse sind negativ. Ich spiele." Selecao-Coach Mario Zagallo willigte ein. Hartnäckig halten sich bis heute die Gerüchte, dass Brasiliens Ausrüster Nike Druck ausgeübt und bei der Entscheidung ein Wörtchen mitgeredet hat.

Aufstellungen ohne Ronaldo

Auf der Pressetribüne waren schon Aufstellungen ohne Ronaldos Namen verteilt worden. Die aufkommende Unruhe legte sich erst, als die Nummer 9 auf den Platz lief. Nach der 0:3-Pleite, in die sich der Rekord-Weltmeister fast wehrlos ergeben hatte, war jedoch der Erklärungsbedarf groß. Aber selbst zwei Parlamentarische Untersuchungs-Ausschüsse brachten in den folgenden Jahren wenig Erhellendes zutage.

Erst 2002 kam der brasilianische Sportjournalist Jorge Kajuru der Wahrheit vielleicht am nächsten. Demnach litt Ronaldo vor und während der WM unter Knieschmerzen, bekam insgesamt acht Injektionen mit einem örtlichen Betäubungsmittel. Auf dem Beipackzettel sind Krampfanfälle als Nebenwirkung ausgewiesen. Ronaldo schweigt dazu.

Die Spieler, die am Mittwoch im Stade de France im Pariser Vorort St. Denis aufliefen, waren 1998 zwar nicht dabei, sprechen aber von einer offenen Rechnung, die es mit den Franzosen zu begleichen gilt. Und so will die Selecao die "Blauhemden" im vierten Anlauf nach jenem 12. Juli 1998 endlich besiegen - um das Trauma zu überwinden.

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