"Wir haben keine Ahnung"

Von Stefan Moser
van nistelrooy, em, 2008, niederlande, holland
© Imago

München - Seit Rinus Michels und Johan Cruyff Anfang der 70er-Jahre den modernen Fußball erfanden, lautet das elfte Gebot in den Niederlanden: Du sollst 4-3-3 spielen!

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Doch damit hatte Marco van Basten, seit vier Jahren Trainer der Elftal, ein Problem: Zwar hat er eine ganze Armada von international hochklassigen Offensivspielern im Kader, aber wie man es dreht und wendet, ein echtes 4-3-3 will sich daraus nicht basteln lassen. Zu viele Strategen, zu viele Mittelstürmer, zu wenig gelernte Flügelflitzer.

Der Kader der Niederländer im Überblick

Nach der verkorksten WM 2006 also fiel der Bondscoach endgültig vom Glauben ab und begann zu experimentieren.  Zum Leidwesen seiner Landsleute, denn van Bastens Versuchsreihe war lange und quälend. Am Ende standen 15 Tore in zwölf EM-Qualifikationsspielen und ein wenig glamouröser zweiter Platz in Gruppe G hinter Rumänien.

Die Systemfrage aber blieb ungeklärt, die Niederländer wechselten munter zwischen 4-4-2 und 4-3-3, beides jeweils ohne großen Glanz. Zudem legte sich van Basten, der als Trainer bei weitem nicht mit der Ausstrahlung gesegnet ist wie noch als Spieler, in schöner Regelmäßigkeit mit arrivierten Spielern an oder strich sie abwechselnd aus dem Kader.

Streit mit Führungsspielern

Spieler wie Mark van Bommel oder Clarence Seedorf etwa, die diese Rolle ausfüllen könnten, stehen gar nicht mehr im EM-Kader. Ruud van Nistelrooy ist mittlerweile zwar begnadigt, der Real-Star aber beschreibt sein Verhältnis zum Coach recht unterkühlt als "okay, man muss im Leben eben einige Dinge akzeptieren."

Nimmt man noch die Verletzungen von Schlüsselspielern wie Robin van Persie oder Arjen Robben dazu, hat man ausreichend Erklärungen für den Umstand, dass van Basten keine zweimal mit derselben Aufstellung spielte.

Antworten in der Systemfrage

In den letzten Wochen vor der Auftaktpartie gegen Italien am kommenden Montag (20.45 Uhr im SPOX-Ticker) aber lautet die gute Nachricht: Van Basten scheint seine Antwort auf die Systemfrage gefunden zu haben.

Des Rätsels Lösung lautet 4-2-3-1: Eine Doppel-Sechs vor der Abwehr, dazu mit Robben, Rafael van der Vaart und Wesley Sneijder drei offensive Mittelfeldspieler und im Zentrum Ruud van Nistelrooy als Stoßstürmer.

Die Dreierreihe rochiert, wechselt permanent die Positionen und zeigte in den letzten Tests gegen Dänemark und Wales phasenweise brillanten Angriffsfußball.

Vor allem Robben scheint gerade noch rechtzeitig seine Form gefunden zu haben und avancierte während der Vorbereitungsphase zum großen Hoffnungsträger in Oranje.

"Keine Ahnung, wo wir wirklich stehen"

Die schlechte Nachricht dagegen lautet: Die Mannschaft spielte in dieser Form gerade einmal drei Halbzeiten zusammen. Eine gegen Dänemark, zwei gegen Wales - im Vergleich zu Italien, Frankreich und Rumänien, den Gegnern in der berüchtigten Gruppe C, vermeintlich eher kleine Fische.

"Ganz ehrlich, wir haben keine Ahnung, wo wir wirklich stehen", resümiert van Nistelrooy in einem Interview mit "Welt online" denn auch seine Eindrücke aus der Vorbereitung und bemängelt die fehlende Konstanz in der Leistung seines Teams.

"Ein gutes Beispiel war unser Test beim 1:1 gegen Dänemark", sagt der 31-Jährige: "In der ersten Halbzeit haben wir uns so viele Chancen herausgearbeitet, wie ich es noch nie bei einer holländischen Nationalmannschaft gesehen habe. In der zweiten Hälfte konnten wir das Level dann nicht halten, sind aber weiter angerannt und haben den Ausgleich bekommen. Das ist unser Problem - wir müssen kontrollierter werden."

Fehlende Hierarchie, fehlende Erfahrung

Für diese nötige Kontrolle aber fehlt im Kader der erforderliche Taktgeber, der vielzitierte Führungsspieler. Die alte Hierarchie wurde von van Basten - wohl mit Kalkül - abgeschafft, eine neue hat sich bislang nicht gebildet.

Vor allem im defensiven Mittelfeld mangelt es den Niederländer erheblich an Erfahrung. Der 25-jährige Demy de Zeeuw vom AZ Alkmaar ist vor der Abwehr gesetzt. Er ist der perfekte Rollenspieler mit hohem Laufpensum und großer Übersicht und könnte eine der Neuentdeckungen des Turniers werden.

Der Platz neben ihm aber bereit van Basten offenbar noch einiges Kopfzerbrechen. Um mehr Erfahrung in die Zentrale zu bekommen, stellte er zuletzt immer wieder Giovanni van Bronckhorst auf diese Position. Doch die optimale Lösung ist der gelernte Außenverteidiger auch nicht.

Die große Unbekannte

Im Zentrum also scheint die niederländische Defensive durchaus verwundbar.Das gilt auch für die Innenverteidigung, die vor allem in der Luft ihre Schwächen hat: Joris Mathijsen (1,82 m) und Johnny Heitinga (1,80 m) sind beides keine Riesen.

Und so kassierte die Elftal etwa im Test gegen Österreich (4:3) Ende März gleich drei Tore nach Standardsituationen.

Alles in allem bleibt die Niederlande wohl vorläufig die große Unbekannte der EURO 2008. Der Elf von Marco van Basten ist es durchaus zuzutrauen gegen Österreich nach gut einer halben Stunde mit 0:3 zurück zu liegen. Es ist ihr aber auch zuzutrauen, diesen Rückstand noch in ein 4:3 zu verwandeln. Und vielleicht ist den Oranjes letztlich sogar alles zuzutrauen.  

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