Tarnen und Täuschen

Von Für SPOX.com in Ascona: Stefan Rommel
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Ascona - Paul Gascoigne war sprachlos. Bei Gazza kommt so etwas in letzter Zeit ja häufiger vor, ein direkter Zusammenhang seiner geistigen Verwirrung mit der deutschen Nationalmannschaft war bisher aber noch nicht festzustellen.

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Gazza saß in einem Fernsehstudio - er schien nüchtern - und stammelte etwas von einem Feuerwerk der Deutschen.

Gary Lineker, der einst den Satz mit den 22 Spielern und dem Ball und dem ewigen Gewinner aus Germany prägte, fand ebenfalls kaum Worte für das, was da gerade über den Bildschirm geflackert war.

Deutschland hatte Polen 2:0 geschlagen. Wirklich sensationell war das nicht, eher von vielen so erwartet. Es war auch nicht das Ergebnis, das erstaunte - es war die Art des deutschen Spiels.

Listiger Angreifer aus der Tiefe

"Die Deutschen haben phantastisch gespielt. Kompakt und konzentriert kennt man sie ja. Aber diese überfallartigen Konterattacken waren perfekt. Ich bin begeistert und erstaunt zugleich. Für mich ist Deutschland der Favorit auf den Titel", lobte Lineker.

Die Spieler in der Einzelkritik

Nun müssen Experten-Aussagen nach dem ersten Spiel nicht immer zutreffen, in Linekers Einschätzung aber liegt sehr viel Wahrheit.

Die DFB-Elf zeigte gegen keineswegs enttäuschende Polen eine taktische Meisterleistung. Der Baumeister jenes Gebildes: Joachim Löw. Viel war spekuliert worden über die Aufstellung gegen den konterstarken Nachbarn.

Der Bundestrainer entschied sich mit Miroslav Klose und Mario Gomez für ein wuchtiges Sturm-Duo und mit Lukas Podolski im linken Mittelfeld für einen listigen Angreifer aus der Tiefe.

Völlig neue Flexibilität

Löws Meisterstück brachte die vielleicht größte von vielen deutschen Stärken rechtzeitig zum Turnierstart zum Vorschein: die Flexibilität. Alle Positionen auf den Außen, sowohl in der Abwehr als auch im Mittelfeld, können von mindestens zwei Spielern ohne großen Qualitätsverlust eingenommen werden.

Etliche Spieler bieten dem Trainer mehrere Optionen an - und damit einen ungemein bunten Kanon an Variationsmöglichkeiten.

Spielsystem und -ausrichtung orientieren sich am Gegner, ohne sich dem Spiel des Gegners unterzuordnen. Die DFB-Auswahl legt sich für die Anforderungen der kommenden 90 Minuten einen detailierten Schlachtplan zurecht und verfolgt diesen mit unerwarteter Variabilität.

Wie ein Aal

"Wir wollten es eigentlich zu unserem Spiel machen. Aber wir konnten nur 15 Minuten wirklich Druck ausüben", gestand Polens Coach Leo Beenhakker auf der Pressekonferenz nach dem Spiel. Beenhakker, der alte Taktikfuchs, wurde vom jungen Löw aufs Kreuz gelegt.

Mit ihren eigenen Mitteln wurden die Polen geschlagen, beim 0:1 klassisch ausgekontert. Löw und sein Trainerstab erkannten die Lücken in der hoch stehenden Abwehr und dem System der Polen mit ihrem holländischen Touch.

Die besten Bilder vom Spiel 

"Die Deutschen waren einfach nicht zu greifen", befand Beenhakker. Widersprechen wollte und konnte ihm niemand. Wie ein Aal wand sich die DFB-Elf danach aus der brenzligen Umklammerung nach der Pause. Benhakker: "Sie haben ihren Stil verändert. Für mich sind sie jetzt die Weltmeister des Konterspiels."

Kollege Löw blieb nüchterner, fasste aber das Bild treffend zusammen: "In der ersten Hälfte haben wir über rechts und links viel Druck erzeugt und sind immer wieder in die freien Räume gestoßen."

EM 2.0

Wie versprochen war die deutsche Mannschaft mit einigen kleinen individuellen Ausnahmen auf den Punkt topfit und geistig voll auf der Höhe. Neben der perfekten taktischen Ausrichtung überzeugte die Mannschaft mit großer Ballsicherheit und einem vor allem in der Anfangsphase atemberaubend hohen Tempo.

Besonders augenscheinlich wurde dies am Beispiel Podolskis. Der Bayern-Stürmer wirkt fitter, spritziger und geistesgegenwärtiger als in seinem Verein, ein Qualitätsunterschied ist nicht zu übersehen.

Chefscout Urs Siegenthaler gebar einst die Idee, Poldi im linken Mittelfeld spielen zu lassen. Löw verfeinerte und perfektionierte sie Schritt für Schritt. "Wenn er aus der Tiefe kommt, hat er besondere Fähigkeiten. Durch seine Flexibilität haben wir mehrere Variationsmöglichkeiten", so Löw.

Er hat es tatsächlich geschafft, die WM-Euphorie über zwei Jahre zu konservieren und zum ersten Spieltag der EM verbessert wieder freizusetzen. Er erreicht damit ein höheres Level als Vorgänger Jürgen Klinsmann, aus der WM 1.0 wird die EM 2.0.

Unberechenbare Deutsche

Der nächste Gegner Kroatien hat sich das Spiel der Deutschen sicherlich angeschaut und wird es auch noch sorgfältig analysieren. Viele Erkenntnisse hat er damit gewonnen, die entscheidenden aber wohl noch nicht.

"Gegen Polen hat das mit Poldi auf links sehr gut funktioniert. Inwieweit das auch in den nächsten Spielen so sein wird, wird sich zeigen", sagte Michael Ballack. Es ist eine kleine Andeutung und Drohung zugleich: Wir sind unberechenbar, wir werden wieder überraschen.

Verlässlich ist allein die Statistik. Und die sagt eindeutig: Nach einem Auftaktsieg bei einer EM hat Deutschland bisher immer den Titel geholt. Das weiß nicht nur Gary Lineker.

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