Die Könige des Chaos

Von Für SPOX.com in Ascona: Stefan Rommel
Türkei, EM, 2008, Deutschland, Chaos, Europameisterchaft
© Getty

Ascona - Nur ein einziges Mal in diesem Turnier wurde sich Fatih Terim untreu.

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Gleich zum Auftaktspiel gegen Portugal vertraute der Trainer der Türken auf ein für seine Elf eher ungewohntes 4-3-3-System. Für gewöhnlich spielen die Türken in einem 4-4-2.

Mit der offensiven Ausrichtung wollte Terim den spielstarken Portugiesen entgegentreten, Druck auf den Gegner ausüben. Der Plan blieb ein Plan, die Umsetzung brachte läppische zwei Torchancen und ein verdientes 0:2 ein.

Zurück zum 4-4-2

Die Kritik zu Hause in der Türkei war vernichtend, der stolze Terim aber blieb dabei und setzte weiter auf die offensive Grundausrichtung, allerdings zog er die beiden Außenspieler weiter zurück und verstärkte so das Mittelfeld. Seitdem ist die Türkei in drei Spielen ungeschlagen und steht völlig überraschend im Halbfinale gegen Deutschland (Mi., ab 20.30 Uhr im SPOX-TICKER).

Zahlreiche Verletzte und gesperrte Spieler sollten Terim vor dem großen Spiel eigentlich in schwere Nöte bringen, sollte man meinen. Der Imperator aber bleibt völlig ruhig und kokettiert sogar mit dem Gedanken, Ersatzkeeper Tolga Zengin in der Endphase der Partie als Feldspieler ins Getümmel zu werfen.

Wobei es mit "Getümmel" schon sehr gut getroffen scheint. Auf dem Papier steht ein klares System, Terim gibt eine kleine taktische Marschroute vor - um diese dann im Laufe der Partie auf einmal völlig über den Haufen zu werfen.

"Sie sind unberechenbarer"

Im Viertelfinale gegen Kroatien etwa spielte alleine Hamit Altintop auf drei verschiedenen Positionen, als rechter Verteidiger, im rechten Mittelfeld und in der Zentrale hinter den Spitzen. "Ich bin Teamspieler. Ich kann rechts spielen, links spielen, wir müssen nur auf dem Platz dieselbe Sprache sprechen. Dann spiele ich zur Not auch Stürmer", so der Bayern-Spieler.

Der Fehler im System hat bei den Türken System. "Die Türken spielen noch viel flexibler, als die Portugiesen gespielt haben. Sie sind unberechenbarer", sagte Joachim Löw. Gegen Deutschland wird Terim gleich auf einigen Positionen umstellen müssen, insgesamt vier Spieler sind gesperrt, vier weitere verletzt.

SPOX.com kennt die Aufstellung der Türken und verrät Stärken und Schwächen des deutschen Halbfinalegegners.

Topal rückt nach hinten

Torhüter Rüstü ist nach der bestätigten Zwei-Spiele-Sperre für Volkan selbstredend gesetzt. Der 35-Jährige ist auf der Linie immer noch Extraklasse, hat in der Strafraumbeherrschung aber große Defizite. Bei Freistößen von der Seite oder Eckbällen droht immer wieder Gefahr, weil Rüstü das richtige Maß einfach nicht findet.

Gökhan Zan ist in der Innenverteidigung gesetzt. Allerdings schleppt er sich schon seit Tagen mit einer Knieverletzung herum. Das gute Stellungsspiel täuscht nicht über Zans Schnelligkeitsprobleme hinweg. Der größte Schwachpunkt in der türkischen Defensive.

Mehmet Topal wird nach Servets Ausfall den zweiten Innenverteidiger geben. Terim vertraut dem 22-Jährigen, der bei Galatasaray auch schon zweimal vom defensiven Mittelfeld zurück in die Innenverteidigung gerückt ist.

Anfällig sind die Türken in der Luft. Weder Topal noch Zan sind Kopfballspezialisten.

Sabri rückt für Hamit auf den rechten Verteidigerposten, während Hakan Balta wieder die linke Abwehrseite abdecken soll. Beide sind solide, wobei Sabri mehr Offensivdrang versprühen wird als der schwerfällige Balta.

Hamit der Hoffnungsträger

Im Mittelfeld wird Terim mit einer flachen Vier beginnen. Die Zentrale decken der sehr flexible Ayhan Akman auf links und Mehmet Aurelio auf rechts als eine Art Doppelsechs ab. Aurelio hat Stärken in der Spieleröffnung, allerdings wirkt der 30-Jährige zu behäbig.

Auf der linken Mittelfeldseite wird Ugur Boral beginnen. Der 26-Jährige hat genügend Erfahrung, wird vermutlich Bastian Schweinsteigers Kreise stören müssen. Für Fenerbahce Istanbul machte er seine Aufgabe in der Champions League im linken Mittelfeld sehr gut, schaltete unter anderem Dani Alves und Frank Lampard aus.

Hamit Altintop ist der Hoffnungsträger und Schlüsselspieler der Türken. Im rechten Mittelfeld spielt der Bayern-Star bisher ein überragendes Turnier, stopft Löcher, ist torgefährlich. Gegen Lukas Podolski und Philipp Lahm muss Altintop in der Rückwärtsbewegung aber enorm viel Laufarbeit leisten.

Wenn Altintop allmählich müde wird, wird es eng für die Türken. Sabri wird ohne Altintops Hilfe Unterstützung aus dem zentralen defensiven Mittelfeld benötigen. Dadurch ergeben sich für Ballack, Schweinsteiger oder Podolski durch die Mitte dann immer wieder Möglichkeiten zum Torabschluss.

Überraschung in der Hinterhand

Semih Sentürk steht als einzige nominelle Spitze fest. Der 25-Jährige von Fener rettete die Türken mit späten Toren schon zweimal. Semih ist der einzige passable Kopfballspieler im Team, soll sich als Stoßstürmer bei Ballbesitz des Gegners mit ins Mittelfeld zurückfallen lassen und Deutschland schon beim ersten Pass im Mittelfeld stören.

Einzig die Frage nach der Position im offensiven Mittelfeld ist noch nicht geklärt. Terim schwankt noch zwischen Kazim Kazim und Jungstar Mevlüt Erdinc, die immer wieder in die Spitze aufrücken sollen und damit ein 4-4-2 erzeugen. Allerdings konnte bisher weder Kazim noch Erdinc überzeugen.

Als Überraschung hat Terim zudem noch Tümer Metin in der Hinterhand, sofern der rechtzeitig fit wird. Metin ist neben Altintop eine gute Option bei Standards.

Die Grundausrichtung der Türken wird nach den Ausfällen der Offensivstrategen Nihat, Arda und Tuncay sehr defensiv sein. Das Team ist psychologisch aber klar im Vorteil, die Türken haben rein gar nichts zu verlieren und "werden kämpfen bis zum Umfallen", so Löw.

Und wenn dann alles nichts mehr hilft, stellt Terim einfach wieder auf Chaos-Modus um. Bisher hat der wunderbar funktioniert.

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