EM

Miserable Zahlen und ein Titel

Von Johannes Raif
Griechenland schnappte sich 2004 als Überraschungssieger den EM-Titel
© getty

Mit Beginn der Europameisterschaft 1980 analysierte Opta alle Spiele bei EM-Endrunden. Die gesammelten Daten lassen aussagekräftige Quervergleiche von Stars und Spielweisen von heute und früher zu. In der EM-Serie wird SPOX in den kommenden Tagen einige Einblicke in die Zahlen geben. Heute: Der bizarre Triumph der Griechen.

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Es ist die bis heute wohl größte Sensation der EM-Geschichte: Griechenlands Triumph bei der Europameisterschaft 2004 in Portugal. Otto Rehhagel verordnete dem Underdog ein knallhartes Defensivkonzept, an dem sich die spielstärksten Teams die Zähne ausbissen - ein Blick auf die Zahlen einer historischen Abwehrschlacht.

Portugals Goldene Generation lag am Boden. Das Team gespickt mit Ausnahmekönnern wie Rui Costa, Luis Figo, Deco und dem jungen Cristiano Ronaldo wollte sich bei der Europameisterschaft im eigenen Land die Krone aufsetzen. Gegen den Außenseiter Griechenland gingen die Portugiesen als haushoher Favorit in das Endspiel. Das Ende ist bekannt. Nur wie konnte es dazu kommen?

Das System, das Rehhagel seine Hellenen hatte spielen lassen, war so schon lange nicht mehr vorgesehen im modernen Fußball. In einer Zeit, in der der Rest der Fußball-Welt schon längst die Viererkette spielte und perfektioniert hatte, setzte der deutsche Trainer auf eine vermeintlich antiquierte Defensivtaktik. Zusammengehalten wurde das Bollwerk von Libero Traianos Dellas - von Rehhagel später als Koloss von Rhodos geadelt.

"Modern ist, wenn man gewinnt"

Kritik an der Spielweise ließ den routinierten Coach kalt. "Modern ist, wenn man gewinnt", sagte er dem auf dem Weg zum größten Triumph seiner Karriere in einem Interview mit dem Stern. Und er hatte ja Recht: Rehhagel lieferte sich mit seinen Griechen Abwehrschlacht um Abwehrschlacht - bis sie sich auf Europas Thron gekämpft hatten. Mit schönem Fußball hatte das aber eher nicht zu tun.

Ein Blick auf die Zahlen deckt die spielerischen Mängel der Griechen gnadenlos auf: 39,3 Prozent Ballbesitz hatte Rehhagels Auswahl im Turnierverlauf, nur fünf Teams hatten weniger bei einer EM-Endrunde. Vier Jahre zuvor hatte es aber Italien bereits mit einer ähnlich abwartenden Taktik bis ins Finale geschafft (39,4 Prozent Ballbesitz). Flüssiges Kombinationsspiel suchte man zudem meist vergebens: Griechenlands Passquote von 67,2 Prozent gehörte zu den schwächsten seit Datenerfassung bei einer EM-Endrunde.

Miserable Passquote

Neben den Hellenen überstand nur die Türkei 2000 mit einer ähnlich miserablen Passquote die Vorrunde (66,7 Prozent). Im Schnitt brachte es die Elf von Otto Rehhagel auf gerade einmal 287 Pässe pro Partie, nur beim damaligen EM-Neuling Lettland waren es weniger bei der Europameisterschaft in Portugal (231). Bei den spielstarken Franzosen waren es zum Beispiel fast doppelt so viele (498).

Die Griechen beschränkten sich auf das, was sie konnten. Leidenschaftlich verteidigen. 202 klärende Aktionen hatte der Underdog im Turnier-Verlauf, das ist der dritthöchste Wert der EM-Geschichte. Zudem führte nie wieder ein Team so viele Luft-Zweikämpfe bei einer EM-Endrunde wie die Griechen 2004.

Doch Rehhagels Defensiv-Bollwerk brauchte eine gewisse Anlaufzeit: Nach vier Gegentoren in den drei Vorrundenspielen kassierten die Griechen kein Gegentor mehr in der K.o.-Phase und lieferten mit drei 1:0-Siegen ein Muster an effektiver Spielweise. Drei zu-Null-Spiele überbot erst Spanien im Jahr 2012 bei einer EM-Endrunde (sogar fünf).

Nur zwei Teams schlechter

Die wenigen Chancen, die sich die Griechen heraus spielten, wurden genutzt. Im Schnitt kam das Team von Otto Rehhagel auf nur acht Torschüsse pro Partie, was nur von zwei Teams in der EM-Historie unterboten wurde. In den entscheidenden Spielen reichte den Griechen aber meist nur ein Standard, um die Partie zu ihren Gunsten zu entscheiden. Sinnbildlich für die griechische Kaltschnäuzigkeit stand Angelos Charisteas.

Der Angreifer gab in der K.-o.-Phase exakt zwei Torschüsse ab, sowohl im Viertelfinale gegen Frankreich als auch im Endspiel gegen die Portugiesen waren diese gleichbedeutend mit dem Siegtreffer seines Landes. Ansonsten stellte er sich mit vollem Einsatz in den Dienst der Mannschaft und beschäftigte die gegnerischen Abwehrspieler wie kein Zweiter in der EM-Historie. Mit 141 Zweikämpfen bzw. 74 Duellen in der Luft bei der Europameisterschaft 2004 hält der ehemalige Bundesliga-Profi EM-Rekorde.

Ein Schuss, ein Tor

Ihr Meisterstück an Effektivität lieferten die Griechen im Endspiel gegen den Gastgeber Portugal ab. Mit 35,9 Prozent Ballbesitz sowie nur 5 Torschüssen stellte die Rehhagel-Elf Negativrekorde für ein Europameisterschafts-Finale auf. Geschenkt!

In der 57. Spielminute kamen die Griechen zu ihrem einzigen Eckball in der Partie und Charisteas köpfte zum EM-Sieg ein - es war der einzige Versuch der Griechen, der auf den Kasten der Portugiesen kam. Portugal rannte an und brachte es auf mehr als vier Mal so viele Torschüsse (22), doch das griechische Abwehrbollwerk hielt stand.

Die Sensation war perfekt und der Favorit geschlagen, wenn auch nicht auf allzu ansehnliche Art und Weise. Egal mit welchen Mitteln, der Erfolg gab Rehhagel recht, der schon vor dem Finale prophezeite: "Im Fußball gewinnt eben nicht immer der Beste."

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