EM

Zeit für Automatismen

Deutschland spielte erstmals seit Mai 2014 wieder 0:0. Damals hieß der Gegner ebenfalls Polen
© getty

Das DFB-Team zeigt beim 0:0 gegen Polen eine erste Reaktion auf das Ukraine-Spiel, wandert jedoch gleich zur nächsten Baustelle. Löw justiert weiter, findet wie die Mannschaft selbst aber noch keine richtigen Lösungen. Noch gibt es keinen Zeitdruck. Er profitiert vom mannschaftlichen Luxus. Noch.

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Besonders entspannt wirkten sie in der Mixed Zone alle nicht, die Neuers, Hummels', Khediras und Müllers. Der Gang vorbei an den wartenden Journalisten ist nach einem Sieg immer angenehmer, lockerer, lustiger als nach einem Negativ-Erlebnis. Das hatte die Mannschaft in den 90 Minuten zuvor allerdings verspielt.

Die grundlegende Thematik der Interviews in den Katakomben des Stade de France hatte das Spiel deutlich vorgegeben. Jerome Boateng machte den Anfang. Viel deutlicher wurde es am Donnerstagabend nicht mehr.

"Offensiv hat heute viel gefehlt. Da muss auf jeden Fall mehr kommen, wofür die gesamte Mannschaft verantwortlich ist. Wir können froh sein, dass es 0:0 ausgegangen ist. Vorne hatten wir zu wenig Bewegung. Wir müssen aufwachen, mehr Torchancen erspielen und mal zum Abschluss kommen. Sonst kommen wir nicht weit", sprach der Man of the Match Klartext.

Nächste Baustelle drängt sich auf

Nach dem EM-Auftakt gegen die Ukraine prangerte ganz Deutschland die Defensive an, dieses Mal schoss man sich getrost auf die Offensive ein. Was jeweils fehlte, waren Automatismen, die das deutsche Spiel wieder stimmig wirken lassen. Löws Spieler funktionieren noch nicht als Verbund. Es wurde zwar viel gedacht, aber wenig konsequent ausgeführt.

Nach der zum Teil wilden Defensiv-Arbeit vom Ukraine-Spiel zeigte das DFB-Team dahingehend gegen Polen immerhin eine deutliche Steigerung. Die Abstände zwischen den Ketten wurden beim gegnerischen Ballbesitz besser eingehalten, zudem erhielten die Außenverteidiger verstärkt Unterstützung von den Vorderleuten. Dinge, die in den beiden nicht sehr aussagekräftigen Testspielen gegen die Slowakei und Ungarn sowie dem EM-Auftakt gegen die Ukraine gefehlt hatten und dazu führten, dass Manuel Neuer deutlich häufiger eingreifen musste als gewohnt.

Obwohl man auch gegen Polen noch weit vom Perfektionismus entfernt war, machte sich die Entwicklung und die bessere Abstimmung der Nationalmannschaft deutlich bemerkbar. Löw und seine Truppe haben aus den jüngsten Erfahrungen gelernt. Ähnlich auffällig drängte sich allerdings auch die nächste Baustelle ins Bild: Das Angriffsspiel.

Luxus: Verlängerte Vorbereitung

Die beiden EM-Partien könnten fast als Gegensätze dienen. Es ist fast schon skurril, dass Deutschlands Offensivbemühungen in Paris ähnlich wirkungslos waren, wie vier Tage zuvor in Lille die Rückwärtsbewegung. Zwar verteidigte Polen auch extrem stark, doch gerade deshalb hätten dem DFB-Spiel vor allem Tempo und Konsequenz gut getan. "In der ganzen Mannschaft hat Durchsetzungsvermögen gefehlt", bemängelte Löw.

In diesem Zusammenhang muss sich allerdings auch der Bundestrainer die Frage gefallen lassen, weshalb er gegen einen erneut physisch sehr starken Gegner Mario Gomez nicht zumindest früher brachte - und weshalb in der derzeitigen Phase, in der Löw weiter Möglichkeiten zum Testen hat, Leroy Sane oder Joshua Kimmich nicht eine Chance erhalten haben. Vielleicht sogar in einem anderen System.

Es ist ein Luxus, wenn man so viel Qualität im Kader hat, dass man die Vorrunde als verlängerte Vorbereitung nutzen kann. Genau so ist die aktuelle Situation im DFB-Team einzuschätzen. Dahingehend wirkte Löw bisher jedoch ziemlich teilnahmslos. In beiden Spielen wechselte er nur zweimal. Er brachte nur drei verschiedene neue Spieler.

Zeit für Automatismen

In den nächsten Spielen muss das richtige Mittelmaß aus den beiden bisherigen Partien gefunden werden - und es muss sitzen. Nach dem Nordirland-Spiel (Di., 18 Uhr im LIVETICKER) beginnt auch für Deutschland die eigentliche Endrunde des Turniers. Dann muss Löw sein Team verstanden und richtig eingestellt haben. Dann muss Löw aufgrund des von ihm selbst gepredigten Abnutzungskampfes auch wissen, wer oder was seine Alternativen sind - personell und systematisch.

"Aktuell sind wir auf der Suche nach den Lösungen", kündigte Müller etwas ratlos weitere Arbeit an. Boateng pflichtete ihm mit einer ganz entscheidenden Aussage bei: "Es ist schwer zu sagen, wo wir gerade stehen."

Das letzte Gruppenspiel ist die Generalprobe für die heiße Phase der EM. Das bis dahin Trainierte und an diesem Tag Umgesetzte wird eine Standortbestimmung ermöglichen, die nach den ersten beiden Partien aufgrund andauernder Justierungen noch schwer fällt. Die gewünschten Automatismen sollen dann nicht mehr theoretisch erklärt werden müssen, man soll sie in der Praxis sehen. Und dann müssen sie sitzen.

Deutschland - Polen: Die Statistik zum Spiel

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