EM

Die Summe vieler Fehler

Von Aus Warschau berichtet Stefan Rommel
Bei Thomas Müller flossen nach dem EM-Aus Tränen
© Getty

Deutschlands Aus gegen Italien ist ein Gesamtkonstrukt aus mehreren Unzulänglichkeiten. Besonders im Fokus stehen dabei Joachim Löws Personalentscheidungen. Aber eben auch nicht nur.

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Joachim Löw ist schon mit einigen Trainern verglichen worden. Mit Alex Ferguson aber bestimmt noch nicht. Ferguson hat in seinen vielen Jahren bei Manchester United eine Disziplin erfunden, die es vorher allenfalls unterschwellig gab und sich natürlich selbst zum Meister aller Klassen gekürt.

Wenn man den Gegner und am besten auch noch dessen Trainer im Vorfeld einer Partie mürbe macht, ihn verbal bekämpft und bis zum Schluss in eine schlechtere Position zwingt, dann spricht der Engländer von Mind Games.

Joachim Löw hat im Vorfeld des Halbfinales gegen Italien sein Gegenüber Cesare Prandelli im Prinzip in Ruhe gelassen. Als dann aber gut eine Stunde vor Spielbeginn im Warschauer Nationalstadion immer noch keine Aufstellung der Mannschaften zu erfragen war, dachten nicht wenige daran: Wer gibt seine Aufstellung und damit seine Strategie zuerst preis?

Ein Berg neuer Fragen

Es war noch relativ früh am Abend, als dies die eine relevante Frage war. Drei Stunden später türmte sich ein ganzer Berg neuer auf. Da lagen die schwarz-weiß gekleideten Spieler auf dem Rasen, andere schlenderten verloren umher. Thomas Müller reagierte sich erst am Pfosten ab, stellte sich später abseits der restlichen Frustrierten.

Deutschland war eben aus der Europameisterschaft, seiner Europameisterschaft, ausgeschieden. In einem Spiel ohne Ankerpunkte und mit fragwürdigen Entscheidungen auf und neben dem Platz einfach so gescheitert. Gegen eine "sehr, sehr gute italienische Mannschaft", wie Sami Khedira später konstatieren sollte.

Aber auch gegen eine italienische Mannschaft ohne große Überraschungseffekte, mit einem vorhersehbaren Spiel und vorhersehbaren Protagonisten, mit Schwächen in der Defensive und einem Quantum Glück. Und trotzdem gegen die alles in allem bessere Mannschaft.

Von vier Halbfinalisten war Deutschland die einzige Mannschaft, die im regulären Spielbetrieb Gegentore kassiert hat. Spanien, Portugal und eben die Italiener hielten ihre Weste rein. "In solchen Spielen im Halbfinale gegen Italien ist es wichtig, dass man selbst keine Tore bekommt", sagte Toni Kroos. Den Verweis auf den Gegner hätte er sich sparen können.

Kroos' Nominierung überrascht

Kroos war Löws Königstausch. Im Vergleich zum Viertelfinale gegen Griechenland unternahm der Bundestrainer drei Wechsel, alle drei in der Offensive. Mit Lukas Podolski an Stelle von Andre Schürrle war zu rechnen.

Dass aber Miroslav Klose wieder aus der Mannschaft musste, um Mario Gomez seinen Platz zu räumen, zumindest pikant.

Kroos' Nominierung für die erste Elf dagegen war auf den ersten Blick kaum zu entschlüsseln. Bisher war das Turnier fast komplett am Münchener vorbeigelaufen. Als Ergänzungsspieler kam er erst auf ein paar Minuten Einsatzzeit, später beschwerte er sich über seine Rolle als Reservist.

Gerade in einem Halbfinale war mit Kroos deshalb dann von Beginn an kaum zu rechnen - noch dazu auf der ziemlich ungewohnten im halbrechten offensiven Mittelfeld.

Löw wollte damit die Kreise von Andrea Pirlo möglichst früh stören und nicht erst, wenn der Italiener ab der Mittellinie auf den Zugriff der deutschen Sechser gestoßen wäre. Also sollte Kroos immer wieder ins Zentrum stoßen, um Pirlo zu beschäftigen. Der Plan ging nicht auf, Kroos bekam Pirlo nicht zu fassen und war im Offensivspiel arg verschenkt.

Prandelli hatte die erwartete Formation auf den Rasen geschickt, im 4-4-2, das zuletzt besser funktioniert hatte als das 3-5-2 und ohne große Änderungen. Lediglich der genesene Giorgio Chiellini nahm als Linksfuß die Position links in der Viererkette ein, Federico Balzaretti wanderte dafür rechts rüber.

Podolski ein Totalausfall

Löw dagegen riskierte viel und verlor alles. Seine Neuen fanden entweder schleppend ins Spiel und waren ein Totalausfall, wie Lukas Podolski. Der Bundestrainer suchte nach dem Spiel nach Erklärungen, fand aber nur eine Art sanfte Entschuldigung für seine Entscheidung: "In den ersten drei Spielen haben wir auch gewonnen mit Mario Gomez und Lukas Podolski."

Dabei hatte Löw unter der Woche verlauten lassen, in erster Linie dem Gegner das eigene Spiel aufdrängen zu wollen. In den Überlegungen bekam die Figur Andrea Pirlo und deren Bewachung dann aber offenbar eine zu dominante Rolle zugewiesen.

Italien spielte gut, aber nicht überragend. Vor dem Tor waren die Azzurri aber an diesem Abend kälter, nutzten die ersten beiden echten Torchancen durch Mario Balotelli, während die deutsche Mannschaft davor zwei dicke Gelegenheiten liegen ließ.

Den beiden Gegentreffern gingen individuelle Fehler voraus. Beim 0:1 ließ sich Mats Hummels zu leicht von Antonio Cassano ausspielen, beim 0:2 unterlief Philipp Lahm einen weiten Schlag von Riccardo Montolivo. "Das ist sehr, sehr bitter. Wir machen dumme Fehler und kriegen so die Gegentore, das darf uns nicht passieren", sagte Lahm danach, er blieb aber in der "Wir"-Form. Hummels nahm das 0:1 dagegen relativ klar und offenherzig auf seine Kappe.

Kein Zufall mehr

"Das Bittere ist: in unserer Mannschaft steckt soviel Potenzial für mehr. Aber wir waren auch nicht clever genug. Wenn man das Potenzial nicht zum richtigen Zeitpunkt abrufen kann, dann verliert man halt so ein Spiel", fügte Lahm an.

Er hat die Entwicklung des deutschen Fußballs seit dem grausamen Aus bei der EM vor acht Jahren hautnah miterlebt. Die kultivierte Spielweise wachsen sehen - aber eben auch die Niederlagen mitgemacht, die es regelmäßig vor dem Erreichen des großen Ziels setzt.

Nach 2006, 2008 und 2010 ist Deutschland wieder in einem Halbfinale oder Finale gescheitert. An einen Zufall mag man da mittlerweile kaum mehr glauben. In den entscheidenden Spielen, Minuten, Szenen gibt es immer wieder eine Mannschaft, die kühler, nüchterner und fokussierter sein kann als die deutsche Mannschaft.

Dafür gibt es Gründe. Definitiv keiner davon ist eine ominöse übersinnliche Kraft. "Es ist immer das Gleiche gegen Italien. Es ist im Augenblick ein Stück zum Verzweifeln. Es war alles so sorgfältig vorbereitet, aber dann passiert es doch wieder", sagte Wolfgang Niersbach, der sein erstes großes Turnier als DFB-Präsident nur zu gerne mit dem Titelgewinn abgehalten hätte. "Irgendetwas hat sich gegen uns verschworen, wenn es gegen Italien geht."

In Warschau war es die Summe vieler großer und kleiner Fehler, die zum Ende der Mission Euro 2012 geführt hatte. Und nichts anderes.

Deutschland - Italien: Daten zum Spiel

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