EM

"Özil ist ein Weltklasseverteidiger"

Von Interview: Haruka Gruber / Daniel Börlein
Mesut Özil bekämpft Klaas-Jan Huntelaar im Gruppenmatch gegen die Niederlande (2:1)
© Getty
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SPOX: Vor allem Toni Kroos' Hereinnahme als Mischwesen aus Rechtsaußen/hängende Spitze/Pirlo-Bewacher sorgte in Deutschland für Unmut. Verstehen Sie die Kritik? Was lief falsch?

Wormuth: In jeder Kritik steckt immer eine emotionale Ursache. Wir waren doch alle enttäuscht ob des Ausscheidens. Lassen wir das Spiel nochmals vor den Augen ablaufen und die Torchancen allein von Hummels positiv werden, wären wir im Endspiel gewesen. Im Nachhinein ist es immer einfacher zu kritisieren. Wenn ein Spieler im Training top drauf war und man ihm vertraut, er aber in der Nacht vor dem Spiel eine Begegnung der unheimlichen Art hatte, kann der Trainer leider nichts dafür, egal ob er am Ende die Verantwortung trägt. Die Spieler sind ein Stück weit für ihre Leistung auf dem Platz selbst verantwortlich. Ich bin kein Freund von Schwarz-Weiß-Denken.

SPOX: Die Umstellung mit Kroos war offenbar nötig, weil es Mesut Özil nicht zugetraut wurde, Pirlo unter Druck zu setzen und richtig anzulaufen. Ist es eine Kernkompetenz, die Özil noch erlernen muss, um zur Weltklasse wie Iniesta und Xavi zu gehören?

Wormuth: Er ist auf seine Art Weltklasse, auch wenn er nie das Defensivverhalten eines Iniesta oder Xavi erreichen wird. Zumindest kann ich es mir aktuell nicht vorstellen. Da muss dem guten Özil in der Nacht wirklich eine besondere Vision erscheinen. Er ist nicht der Typ dazu. Vielleicht reichte die Effektivität am Ende nicht aus, um ins Endspiel zu kommen, dafür hat er in der Offensive hervorragende Eigenschaften, die er immer wieder in den EM-Spielen gezeigt hat. Und verglichen zum Defensivverhalten von Andrei Arshavin oder Cristiano Ronaldo ist Özil ein Weltklasseverteidiger.

SPOX: Die deutschen Spieler sind dazu angehalten, keine unnötigen Fouls zu begehen. Fehlt den Deutschen gegen Italien nicht dadurch die gewisse Grundaggressivität? Spaniens Pique und Ramos gingen im Finale ordentlich zur Sache und nutzten Fouls als fußballerisches Mittel, um den Gegner zu stoppen und um ein Zeichen zu setzen. Oder ist der Gedanke zu sehr "Stammtisch"?

Wormuth: Gute Frage. Auf der einen Seite soll man "unforced errors" vermeiden, die zu gefährlichen und unnötigen Standards führen und auf der anderen Seite muss man zwischendurch immer mal dem Gegner zeigen, dass es kein Zuckerschlecken ist, wenn er in die andere Hälfte kommt. Es ist die Balance, die stimmen muss.

SPOX: In der gesamten EM gab es keine einzige Rote Karte für einen Feldspieler und insgesamt nur zwei Gelb-Rote Karten, wobei die Hinausstellung für Griechenlands Sokratis ungerechtfertigt war. Ist es zu einer Qualität geworden, "klug" zu foulen? Oder ist das nur eine statistische Anomalie ohne Aussagekraft?

Wormuth: In der Tat gehen die Spieler "klug" in die Zweikämpfe. Zudem wird durch das Doppeln des Ballführers ein Foul viel eher vermieden. Einer stellt den Gegner am Ball und beschäftigt ihn, ohne den Ball erobern zu wollen. Der Andere kommt hinzu und holt sich die Kugel fair und effektiv. Außerdem fiel bei dieser EM besonders auf, dass sich die Teams ballorientiert langsam zum eigenen Strafraum bewegen und somit vielbeinig den immer enger werdenden Raum zustellen. Da wird es schwer, sich durchzusetzten oder gar ein Foul "herauszuholen".

SPOX: Mats Hummels und Holger Badstuber gehörten zu den Gewinnern der EM - bis Italien kam. Auffällig war, dass Hummels und vor allem Badstuber unheimliche Probleme gegen den Zweier-Sturm der Italiener hatten. Kann es damit zusammenhängen, dass sie sich sonst gegenseitig absichern können, gegen zwei Angreifer jedoch durchgängig einzeln gefordert waren? Oder fehlte ihnen schlichtweg die Unterstützung aus der Doppelsechs?

Wormuth: Es ist tatsächlich so. Durch das meist in der Bundesliga gespielte 4-2-3-1 oder zumindest das Spiel mit einer Keilspitze wissen die Innenverteidiger immer eine gegenseitige Absicherung neben sich. Selbst wenn der Gegner mit einer hängenden Spitze kommt, ist es noch einfacher für die Innenverteidiger als wenn zwei ganz vorne postierte Stürmer auflaufen. Die Doppelsechs kann hier kaum unterstützend wirken, weil die beiden defensiven Mittelfeldspieler nach vorne mit ihrem Blick arbeiten. Allerdings hingen die deutschen Gegentore nicht mit dem italienischen Zweiersturm zusammen: Beim ersten Gegentor hatten wir eine 3-gegen-1-Situation am Strafraum und beim zweiten Gegentor nach Konter standen zwei Spieler neben Balotelli.

SPOX: Um den Kreis zum ersten Interview vor der EM zu schließen: Italiens Führungstor fiel genauso, wie es Kölns Ex-Trainer Stale Solbakken angemerkt hatte: Hummels geht raus zum Doppeln und entblößt das Zentrum. Fühlten Sie sich daran erinnert? Oder war das kein systematisches Problem sondern nur eine Ausnahme?

Wormuth: Dieses Verhalten von Hummels hatte nichts mit Solbakken und seiner Vorstellung von Fußball zu tun, sondern dieser junge Klassespieler hat sich schlichtweg "eindrehen" lassen, weil er zu schnell auf den Ballführer zuging. Er wollte den Ball aktiv erobern, hätte stattdessen lieber, wie vorher bei der Frage nach "klugem" Zweikampfverhalten erklärt, einfach nur passiv hinten dran bleiben müssen. Es waren ja noch andere Spieler um den Ball herum. Ein klassisch individueller Fehler.

SPOX: Bei aller Kritik an Deutschland: Welche positiven Schlüsse ziehen Sie aus der EM aus deutscher Sicht?

Wormuth: Wir dürfen nicht vergessen: Unsere Nationalmannschaft war die jüngste im Turnier und zum wiederholten Male unter den besten vier Mannschaften. Zudem hat sie einen Weltrekord an gewonnenen Pflichtspielen in Serie aufgestellt, sich in einer sehr starken Gruppe durchgesetzt und am Ende das Endspiel nur knapp verfehlt. Immerhin hatten sie gegen Italien die meiste Ballbesitzzeit und die meisten Zweikämpfe gewonnen. Also: Engagement lag vor. Dass es am Ende nicht gereicht hat, ist schade, die Entwicklung der letzten Jahre zeigt trotz allem, dass wir mit dieser Mannschaft über eine sehr gute Basis verfügen, um in naher Zukunft doch endlich diesen Titel zu holen, den jeder fordert. Bei aller Enttäuschung: Die Spieler sind keine Maschinen, sondern Menschen mit viel Geld auf dem Konto, aber mit den gleichen Gefühlen wie wir "verarmten" Zuschauer.

SPOX: Wohin könnte der weitere Weg führen? Was könnte der nächste taktische Evolutionsschritt der Deutschen sein?

Wormuth: Das ist eine Frage, die ich gerne an die SPOX-User weiterreichen möchte. Ich will nicht vorweggreifen, vielleicht bekommen wir von den Lesern die eine oder andere Anregung. Ich halte sowieso viel von dem Gedanken, als Trainer ab und zu mal den Neutralen außerhalb des Trainerteams zu befragen, denn der sieht manchmal alles ganz einfach und somit klarer. Ich hoffe auf rege Beteiligung!

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