EM

Japanische Comic-Helden

Von Andreas Lehner
Spaniens Künstler am Ball: David Silva (l.) und Andres Iniesta
© Getty

Spanien diskutiert vor dem Viertelfinale gegen Frankreich (ab 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) über die Qualität seiner Nationalmannschaft. Trainer Vicente del Bosque bleibt ruhig und vertraut seinen Künstlern Andres Iniesta und David Silva.

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Es gibt dieses Bild vom ersten Gruppenspiel der Spanier gegen Italien. Andres Iniesta wird von fünf italienischen Verteidigern umzingelt und dabei zum Ballverlust getrieben. Es gibt dieses Bild auch vom Spiel der Spanier gegen Kroatien. Iniesta gefangen im Spinnennetz der gegnerischen Defensivreihen.

Es war das Bild vom Spinnennetz, das Nationaltrainer Vicente del Bosque benutzte, als er über das Spiel gegen Kroatien und über das Leiden seiner Mannschaft sprach. Die Kroaten hatten den Welt- und Europameister an den Rand des Ausscheidens gezwungen. Eine starke Parade von Iker Casillas und ein, zwei umstrittene Schiedsrichterentscheidungen halfen Spanien ins Viertelfinale.

Spanien rätselt über die Qualität

Seitdem herrscht in Spanien Unruhe. Wie gut ist diese Mannschaft? Spielt sie nicht zu defensiv? Ist sie zu satt? All diese Fragen werden gestellt und del Bosque stellt sich all diesen Fragen.

Für den 61-Jährigen gehören Diskussionen einfach zum Fußball, er bedient nach Möglichkeit alle Medien - auch die spanischen Radiotalks nach Mitternacht - immer mit der ihm eigenen Gelasenheit, Sachlichkeit und dem Respekt vor anderen Meinungen.

Del Bosque versucht Überzeugungsarbeit zu leisten für seinen Weg, sei es im Diskurs um die "falsche Neun" oder um die Besetzung der Viererkette. Die Leute sollen seine Entscheidungen nachvollziehen können.

Beste Abwehr, bester Angriff

In der Heimat sind die Sorgen aber groß, dass die Seleccion dieses Mal ohne Titel nach Hause reisen könnte. "Wir waren wohl zu lange arm und wurden dann zu schnell reich. Jetzt wissen wir nicht mehr zu schätzen, was wir haben", sagte del Bosque nach dem Viertelfinaleinzug.

Die Bilanz der Vorrunde spricht für sich: Sieben Punkte und Gruppensieg, kein Team erzielte mehr Tore (6) und kassierte weniger (1), kein Team gab mehr Torschüsse ab, kein Team hatte mehr Ballbesitz und spielte mehr Pässe.

Spanische Medien träumen und schwärmen immer noch vom 3:0 im Halbfinale der EM 2008 gegen Russland, das als eines der besten Spiele der Seleccion überhaupt gilt, und übersehen dabei, dass sich die Russen damals wie Lemminge in den spanischen Konterwirbel stürzten.

Schon das Viertelfinale (4:2 n.E. gegen Italien) und das Finale (1:0 gegen Deutschland) waren erdigere Siege.

Vicente del Bosque setzt auf Kontrolle und Defensive

Was ebenfalls vergessen wird: Del Bosque hat das 4-1-4-1 seines Vorgängers Luis Aragones abgeschafft und die Grundausrichtung defensiver gestaltet.

Das Spiel ist in höchstem Maß auf Kontrolle ausgerichtet. Dafür sorgen das Pass- und Positionsspiel mit schier endlosen Ballzirkulationen sowie die eher konservative Aufstellung, die weniger offensiv ist als beispielsweise die der deutschen Nationalmannschaft.

Mit Xabi Alonso und Sergio Busquets schickt Trainer Vicente del Bosque zwei eher defensiv orientierte Sechser aufs Feld. "Sie sind aber nicht nur Steinmetze", wie del Bosque erklärt. "Sie haben Talent und Kreativität. Sie können ein Spiel aufbauen und auch selbst torgefährlich werden."

Die Außenverteidiger, besonders Alvaro Arbeola, halten sich mit Vorstößen zurück. Selbst der vielleicht genialste Stratege Europas Xavi wird zum Wohle der Stabilität in eine neue Rolle gesteckt.

Spanien in der Taktikanalyse: Die Iniesta-Täuschung und der andere Xavi

Erdrückende Dominanz oder fehlende Leichtigkeit

Es ist also kein Zufall, dass Spanien auf dem Weg zum WM-Titel 2010 alle Spiele der K.o.-Runde 1:0 gewann. Es passt nur nicht ganz zur allgemeinen Wahrnehmung, dass das Ergebnis über dem Spektakel steht.

Und obwohl Spanien unter del Bosque nur zwei Pflichtspiele verloren hat (0:2 vs. USA beim Confed-Cup 2009, 0:1 vs. Schweiz bei der WM 2010), kann die Bewertung des spanischen Spiels schnell von Bewunderung in Verachtung kippen.

Gelingt Spanien ein frühes Tor, ist die Dominanz erdrückend, das Konterspiel überwältigend. Steht es lange 0:0 oder gerät Spanien sogar in Rückstand, spielt es wie ein Handball-Team um den Strafraum und es heißt, es fehle die Durchschlagskraft oder Spanien habe seine Leichtigkeit verloren.

Zinedine Zidane schwärmt von Andres Iniesta

Dabei vertraut Spanien auf das bisher bezauberndste Offensivduo dieser EM: Andres Iniesta (SPOX-Durchschnittsnote 2,0) und David Silva (SPOX-Durchschnittsnote 1,8). Beide bewegen sich mit unvergleichlicher Grandezza über den Platz und lassen die kompliziertesten Sachen ganz einfach aussehen.

Iniesta scheint auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft. Zum ersten Mal in seiner Karriere tritt er bei einem großen Turnier ohne körperliche Probleme an. "Spanien spielt gut, weil es viele gute Fußballer hat, aber Iniesta steht auf einer eigenen Stufe", sagte Zinedine Zidane vor dem Viertelfinale gegen seine Franzosen. "Er hat enormen Einfluss auf das spanische Spiel."

Xavi will "durch Iniestas Augen schauen"

Die Gegner haben dies natürlich längst registriert und bauen eben diese Spinnennetze um ihn herum. Szenen, die spanische Medien an die japanische Fußball-Comic-Serie Captain Tsubasa erinnerten.

Gänzlich stoppen lässt sich der "blasse Ritter", wie Iniesta wegen seiner hellen Haut genannt wird, dadurch aber nicht. "Andres sieht Räume, wo es sie nicht gibt, ist imstande, genau dort eine Pause einzufügen, wo es das normalste der Welt wäre, Hast zu verspüren", sagt Juan Mata. "Andres passiert das nicht, weil er genau den Moment abzupassen versteht, um die beste Option zu finden, und weil sein Kopf mit atemberaubender Geschwindigkeit funktioniert."

Selbst Superhirn und Taktgeber Xavi verneigt sich vor seinem Kumpel: "Wenn ich mir die Übersicht eines Spielers wünschen könnte, würde ich durch Iniestas Augen schauen wollen."

Silva ist Spaniens Messi

Perfekt ergänzt wird Iniesta durch seinen Partner Silva. "Es ist, als sei er mit uns aufgewachsen", sagt Xavi. Obwohl er beim FC Valencia ausgebildet wurde, passt er perfekt in die Barca-Schule: klein, wendig, intelligent.

Dass er schon 2008 ein fester Bestandteil des Teams war wird oft vergessen. 2010 stand er im Auftaktspiel noch in der Startelf. Der missglückte Start spülte ihn jedoch auf die Bank, wo er bis auf ein paar Minuten im Halbfinale gegen Deutschland auch blieb. Seit seinem Wechsel zu Manchester City ist Silva gereift, jetzt prägt er das Spiel der Nationalmannschaft.

Geniale Momente wie sein Pass vor dem 1:1 gegen Italien auf Cesc Fabregas oder sein Tor gegen Irland brachten del Bosque dazu, diesen Satz zu sagen: "Silva ist unser Messi." Was der Trainer damit sagen will: Silva ist ein kompletter Offensivspieler. Er ist stark im Dribbling, kann den entscheidenden Pass spielen und selbst Tore schießen.

Spaniens Horrorbilanz gegen Frankreich

Um seine genialen Künstler für die Offensive freizumachen, hat del Bosque sein System auf defensivere Stützen gebaut. Doch jetzt kommt Frankreich. Ein Gegner, der die Sorgen in der Heimat noch vergrößert.

Noch nie konnte ein spanisches Team ein Pflichtspiel gegen Les Blues gewinnen: fünf Niederlagen, ein Unentschieden. Darunter auch die letzte Niederlage in einem K.o.-Spiel im Achtelfinale der WM 2006 (1:3) und das traumatisierende EM-Finale 1984.

Del Bosque hält nichts von Panikmache aufgrund vergangener Ergebnisse und verweist lieber auf das letzte Freundschaftsspiel 2010 in Paris. 2:0 für Spanien.

Auch deshalb wird er an seinem System festhalten. Das Viertelfinale wird ein Spiel wie es viele in der Ära del Bosque gab. Ein destruktiver Gegner, der auf Konter lauert und wenig Räume bietet, wird seine Netze um Iniesta und Silva spinnen.

Der EM-Kader Spaniens

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