EM

Equipe tricolore: Knysna vergessen machen

Von Jochen Tittmar
Laurent Blanc (mit Ball in der Hand) schwört die französische Nationalmannschaft ein
© Imago

Durch die blamablen Ereignisse rund um die WM 2010 steht die französische Nationalmannschaft bis heute unter enormem gesellschaftlichen Druck. Der neue Trainer Laurent Blanc rehabilitierte die Equipe tricolore sportlich, manövrierte sich aber beinahe selbst ins Aus.

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Knysna. Ein Wort, das wohl nur sehr wenigen Europäern etwas sagt. Bis auf eine Ausnahme: In Frankreich ist das südafrikanische Städtchen jedem ein Begriff. Das "Fiasko von Knysna" steht dort als Synonym für die größte Krise, in die der französische Fußballverband FFF jemals geschlittert ist.

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Die Querelen zwischen Mannschaft, Trainerstab und Verband im Teamquartier bei der WM 2010 haben nicht nur in die französische Fußballlandschaft tiefe Krater gerissen. Die Folgen der Geschehnisse in Knysna nahmen in der Gesellschaft Dimensionen an, die bisweilen sogar brisante politische Themen wie die Anhebung des Renteneintrittsalters in den Hintergrund drängten. Selbst Staatspräsident Nicolas Sarkozy sah sich bemüßigt, seinen Senf zum Thema abzugeben.

Laurent Blanc folgt auf Raymond Domenech

Die Schuldigen am immensen Imageverlust der Eqipe tricolore wurden schnell ausgemacht: Verbandspräsident Jean-Pierre Escalettes legte sein Amt nieder, zahlreiche Spieler wurden für mehrere Partien von der Nationalelf ausgeschlossen. Trainer Raymond Domenech, in Südafrika eine bemitleidenswerte Marionette von Spielern und Medien, wurde aus den gesamten Verbandsstrukturen verbannt.

Und dann stand da 50 Tage nach dem Vorrundenaus Laurent Blanc an der Seitenlinie in Oslo. Unter schlimmeren Voraussetzungen ist in Frankreich noch kein Nationalcoach angetreten.

Dennoch: Blancs Ruf in der Öffentlichkeit als einer der Weltmeister von 1998 ist ausgezeichnet, er konnte trotz der mitunter herrschenden Aggression gegen die Bleus relativ unbeschwert an die Mammutaufgabe herangehen.

Frankreich schon lange ohne Niederlage

In Abstimmung mit den Verbandsoberen und zum Gefallen der breiten Öffentlichkeit verzichtete Blanc in Norwegen auf alle WM-Fahrer. Acht von 13 Neulingen feierten an jenem 11. August ihr Debüt - am Ende stand wie beim darauffolgenden EM-Quali-Auftakt gegen Weißrussland allerdings eine Niederlage.

Blancs Bestrebungen, nicht nur das Geschehene endgültig abzuschließen, sondern den Bleus auch sportlich ein neues Gesicht zu verpassen, fruchteten in der Folge. Taktisches Grundkorsett bildete dabei in den meisten Fällen ein offensives 4-3-3, in dem sich Debütanten wie Yann M'Vila, Marvin Martin oder der in der Innenverteidigung mittlerweile gesetzte Adil Rami zu echten Stützen entwickelten.

Das Team unterlag zwar Formschwankungen, brachte aber dennoch Ergebnisse nach Hause. Seit Blancs zweitem Spiel als Trainer hat Frankreich nicht mehr verloren und dabei auch Größen wie England und Brasilien in die Knie gezwungen.

Debatte über Spieler mit Migrationshintergrund

Diese Teilerfolge sind auch damit zu begründen, dass der Selectionneur nach und nach die Meuterer von Knysna wieder ins Team eingliederte. Spieler wie Hugo Lloris, Gael Clichy, Bacary Sagna, Florent Malouda, Abou Diaby, Alou Diarra, Patrice Evra und Franck Ribery gehören zur Creme de la creme des Landes, so Blancs simple wie treffende Begründung.

Frankreichs Kader der EM-Qualifikation im Überblick

Es wäre daher ein Wahnsinn, die bestraften Akteure dauerhaft links liegen zu lassen. Dennoch quittierte die Öffentlichkeit einige Rückholaktionen mit teils heftigen Reaktionen. Blanc ließ sich von seinem Kurs jedoch nicht abbringen und steuerte mit seiner Mannschaft trotz einiger mühsam errungener Siege Richtung direkte EM-Qualifikation.

Doch wie sehr Knysna trotz der sportlichen Rehabilitation unter Blanc noch immer nachwirkt, zeigte eine Debatte, in die sich der französische Fußball im Mai 2011 unfreiwillig hineinmanövrierte. Francois Blaquart, technischer Direktor der FFF, sprach hinter geschlossenen Türen über die Einführung einer Quote für Spieler mit Migrationshintergrund.

Blanc: "Wer ist groß, stämmig, stark?"

Das Internetportal "Mediapart" veröffentlichte die Gesprächsprotokolle und machte damit den nächsten Skandal publik. Auch Blanc geriet dabei in die Schusslinie: "Wir produzieren in Frankreich immer den gleichen Fußballer-Prototyp: Groß, stämmig, stark. Und wer ist groß, stämmig, stark? Die Schwarzen. So ist das nun mal", sagte er.

Damit wurde eine Polemik in Gang gesetzt, die neben rassistischen Tendenzen schwerwiegende Probleme innerhalb des Verbandsapparats offenbart. Zu den Glanzzeiten um die Jahrtausendwende wurde die Equipe tricolore als beispielhaftes Spiegelbild einer multikulturellen Gesellschaft gebauchpinselt.

Nun, in Zeiten, in denen der französische Fußball keine herausragenden sportlichen Erfolge mehr zeitigt, missfällt den Verantwortlichen, dass sich Spieler mit ausländischen Wurzeln nach der Ausbildung im französischen Juniorenbereich zunehmend für die Nationalelf ihrer Heimatländer entscheiden.

Blanc schwer unter Beschuss

Damit wird das nach den innenpolitischen Querelen der letzten Jahre offensichtliche Identitätsproblem der französischen Gesellschaft eins zu eins auf den Fußball übertragen. Eine solche Quote würde den Gedanken vom Leistungssport, der unabhängig von der körperlichen Robustheit einzelner Spieler bleiben muss, ad absurdum führen.

Keine Niederlage 2011: Blancs Jahresbilanz

Die Luft für Blanc wurde mit dem Bekanntwerden dieser peinlichen Gedankenmodelle immer dünner. Der 46-Jährige bestritt zunächst die Vorwürfe, nur um sie wenig später indirekt zuzugeben. Weite Teile der Grande Nation forderten seinen Rücktritt, Blanc tauchte in Norditalien unter und konnte dabei zusehen, wie Ribery und Zinedine Zidane für seine Weiterbeschäftigung plädierten.

Eine Anhörung Blancs durch die FFF und das Sportministerium brachte schließlich das Ergebnis, dass es keine Beweise für Pläne zur Einführung einer Quotenregelung gebe.

Zweitbeste Defensive der EM-Qualifikation

Doch trotz aller Querelen außerhalb des Spielfelds wurde Blancs Position letztlich deshalb gestärkt, weil er die sportlichen Zielsetzungen nach dem Fiasko von Knysna umsetzte. Mit einem 1:1 gegen Bosnien-Herzegowina qualifizierte sich eine personell aufgefrischte Equipe tricolore für die EM-Endrunde im nächsten Jahr. Nichts anderes wurde erwartet.

Neben einer offensiveren Grundausrichtung als unter dem zurückhaltenden Domenech schaffte es Blanc vor allem, die Defensive zu stabilisieren.Zusammen mit Russland kassierte Frankreich nach Italien die wenigstens Gegentore (vier) der gesamten Gruppenphase. Lediglich 1984 und 1995 wies die Statistik eine bessere Gegentorquote pro Spiel auf als im Kalenderjahr 2011.

Blancs Vertrag läuft vor Beginn der EURO 2012 aus. Eine Verlängerung ist nur noch eine Frage des geeigneten Zeitpunkts. Für das Turnier muss der President, wie er in Frankreich seit dem WM-Sieg genannt wird, eine Forderung der Bevölkerung erfüllen, die trotz der Qualifikation weiterhin nachhallt: Knysna endgültig vergessen zu machen.

Frankreichs EM-Qualifikationsgruppe D im Überblick

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