"Spanien braucht keine Revolution"

Bodo Illgner bejubelt den Gewinn der Champions League 1998 mit Roberto Carlos und Clarence Seedorf
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SPOX: In Deutschland ist die Torhüterfrage dank Manuel Neuer eindeutig geklärt. Wie hoch war sein Anteil am Gewinn der Weltmeisterschaft?

Illgner: Sehr hoch. Neuer hat eine tolle WM gespielt und eine komplette Torwartleistung abgeliefert. Er war stark auf der Linie, in der Strafraumbeherrschung und praktisch auch als Libero. Er hat im entscheidenden Spiel gegen Algerien gezeigt, wie wichtig es ist, dass man einen Torwart hat, der mitspielt, der wach und gut drauf ist. Nach dieser WM ist Neuer für mich auch definitiv die Nummer eins der Welt.

SPOX: Er ist auch bei der Vorauswahl des Weltfußballers unter den letzten 23. Hat er eine Chance?

Illgner: Ich freue mich immer, wenn ein Torwart in dieser Wahl auftaucht. In Brasilien hat man gesehen, wie wichtig ein guter Rückhalt für einen WM-Titel ist. Da die Torhüter immer kompletter werden und immer besser mit dem Fuß mitspielen, haben sie jetzt vielleicht größere Chancen, weil sie den Feldspielern etwas ähnlicher werden.

SPOX: Als großer Favorit gilt Cristiano Ronaldo. Wie erleben Sie ihn bei Real Madrid?

Illgner: Ronaldo hat eine tolle Saison gespielt und auch in dieser Phase, wo die Wahl ansteht, trifft er wieder in außergewöhnlicher Weise. Er hat eine tolle Entwicklung genommen in den letzten zwei Jahren - auch außerhalb des Platzes. Vorher war er das Enfant terrible, so dass Lionel Messi einen Vorteil hatte. Aber auch in diesem Bereich hat er den Abstand verkürzt und seine Chancen verbessert.

SPOX: Nicht so gut läuft es gerade für Marc-Andre ter Stegen. Sie haben im letzten SPOX-Interview gesagt, dass ein Wechsel zu Barca ein großes Wagnis sei und hätten Thibaut Courtois bevorzugt. Sehen Sie sich in gewisser Weise bestätigt, weil ter Stegen mit Claudio Bravo noch einen Konkurrenten zur Seite gestellt bekommen hat?

Illgner: Ich habe damals Courtois favorisiert, weil der die spanische Liga kennt und schon einige Jahre bei Atletico Madrid hervorragende Leistungen gebracht hatte. Ich gehe davon aus, dass er bei Barcelona auch direkt die Nummer eins geworden wäre. Für ter Stegen ist es schwieriger. Er ist in Spanien noch ein unbeschriebenes Blatt. Das ändert sich jetzt erst nach und nach. Er hat das Pech, dass der Trainer in der Liga auf Claudio Bravo gesetzt hat und die Mannschaft mit acht Spielen ohne Gegentor in die Saison gestartet ist. Das war ein Gala-Start für einen Torwart, leider aber nicht für ter Stegen.

SPOX: Die Verpflichtung von Bravo war kein Vertrauensbeweis für ter Stegen. Wie interpretieren Sie die Entscheidung Barcas?

Illgner: Ter Stegen wurde eigentlich als Nummer eins verpflichtet. Aber am Ende war man sich dann wohl doch nicht hundertprozentig sicher und hat sich mit Claudio Bravo noch einen gestandenen Mann dazu geholt, um sich abzusichern. Bravo ist in einem sehr guten Torwartalter und in der chilenischen Nationalmannschaft eine feste Größe. Barca hat im Prinzip eine Nummer eins neben einer Nummer eins, dementsprechend ist der Konkurrenzkampf sehr groß.

SPOX: Wie sehen Sie die Zukunft ter Stegens in Barcelona?

Illgner: Er wird sich auf lange Sicht durchsetzen, weil seine Spielweise gut in Barcelona ankommt und er damit auch gut zu Barca passt. Er muss nach und nach an seinem Ruf arbeiten. Wenn man vor seinem Wechsel in Spanien Szenen von ihm gesehen hatte, dann waren das so haarsträubende Fehler wie im Länderspiel gegen die USA oder der vergleichbare Fehler in der Bundesliga gegen Braunschweig. Seine konstant guten Leistungen bei der Borussia sind untergegangen, weil er nicht die Möglichkeit hatte, im internationalen Wettbewerb auf sich aufmerksam zu machen. Jetzt spielt er zwar international, aber nicht in der Liga. Das ist natürlich ein Problem, um seine Qualität weiterhin zu zeigen. Aber er gewinnt langsam an Kredit. Die Spanier sehen, dass er ein gut ausgebildeter, talentierter Torwart ist, der vor allem sehr gut mit den Füßen mitspielt, was bei Barcelona ein wichtiger Punkt ist.

SPOX: Luis Enrique hat sich für eine gesplittete Torhüter-Beschäftigung entschieden, Bravo in der Liga, ter Stegen in der Champions League. Real hat mit dieser Taktik letzte Saison die Königsklasse gewonnen. Was halten Sie davon?

Illgner: Trotz der vielen Spiele und der Tatsache, dass der zweite Torhüter Spielpraxis braucht, ist das nicht sinnvoll. Wenn der Torhüter in der Champions League patzt, sorgt das für Diskussionen und Unruhe. Bei Real Madrid hat das letzte Saison zwar sehr gut geklappt, aber das schreibe ich zu einem großen Teil Ancelotti zu, der einfach ein glückliches Händchen hat.

SPOX: Ancelotti war wohl die beste Entscheidung von Präsident Florentino Perez in seiner Amtszeit.

Illgner: Was Ancelotti anfasst, wird zu Gold. Er war ein Glücksgriff nach Jose Mourinho. Ancelotti strahlt die Ruhe und Souveränität aus, die man vorher vermisst hat. Er passt auch wesentlich besser zum Image des Vereins als der umtriebige, aggressive Mourinho, der die Fans gespalten hat. Es gab zwei Lager pro Mourinho und contra Mourinho und letztlich auch pro Casillas und contra Casillas. Mourinho hat dem Verein zum Schluss hin sehr geschadet.

SPOX: Schafft es Real Madrid als erste Mannschaft, endlich mal den Champions-League-Titel zu verteidigen?

Illgner: Ich traue es Real Madrid zu, sie sind in einer tollen Form. Dennoch sind wir noch früh in der Saison, das kann sich im Laufe der Zeit noch verändern. Es kommen immer wieder Verletzungen und Ausfälle dazu, die man nicht einkalkulieren kann. Aber der Kader ist so gut bestückt, dass die Titelverteidigung drin ist.

SPOX: Toni Kroos wird aktuell in Spanien mit Lob überschüttet. Auf der anderen Seite geht es Xabi Alonso beim FC Bayern in Deutschland genauso. Welcher Verein hat das bessere Geschäft gemacht?

Illgner: Diese Frage hatte ich vor der Saison auch schon mal bei Twitter aufgeworfen. Dass Xabi bei Bayern so schnell und so gut eingestiegen ist, hatte ich nicht erwartet. Ich dachte, er braucht ein bisschen mehr Zeit. Kroos bildet mit Modric ein perfektes Tandem im Mittelfeld. Durch die Unterstützung der Mitspieler sieht das alles sehr stabil aus. Insgesamt glaube ich, hat Real das leicht bessere Geschäft gemacht, weil sie einen jüngeren Spieler von ähnlicher Klasse bekommen haben.

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SPOX: Sie analysieren aktuell das Fußballgeschehen als TV-Experte, haben aber in Spanien auch die Ausbildung zum Sportdirektor absolviert. Wann sehen wir Sie als handelnde Person im Fußballgeschäft?

Illgner: Ich fühle mich sehr wohl als TV-Experte, es macht mir sehr viel Spaß, die Dinge zu analysieren und zu diskutieren. Alles andere liegt in weiter Ferne, da will ich nicht spekulieren. Manchmal geht das ganz schnell und manchmal wird es nie etwas. Ich lasse das ganz entspannt auf mich zukommen.

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