Weckruf im Museum

Joachim Löw ist seit 2006 Trainer der deutschen Nationalmannschaft
© getty

Mit dem Testspiel gegen Chile (Mi., 20.30 Uhr im LIVE-TICKER) beginnt für die deutsche Nationalmannschaft das Unternehmen WM-Titel in Brasilien. Bundestrainer Joachim Löw verschärft den Ton erneut und läutet 100 Tage vor Beginn der Weltmeisterschaft den Countdown ein.

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Der Zeitpunkt war nicht optimal, aber Joachim Löw konnte keine Rücksicht nehmen. Für ihn war die Zeit gekommen, etwas geradezurücken und eine Botschaft zu senden. WM-Kampagne hin, WM-Kampagne her.

"Auf dem Papier haben wir eine Top-Mannschaft mit hoher Qualität und Top-Individualisten. Aber die Wahrheit sieht nicht so schön aus", sagte Löw am Montag in Stuttgart. Den neuen Slogan, den sich die Marketingleute ausgedacht haben und im Museum des Automobilpartners der Öffentlichkeit präsentierten, hat er damit zum Teil treffend beschrieben, aber gleichzeitig den Boden unter den Füßen weggezogen.

Bedingt bereit

Auf dem Papier der in Löws Rücken platzierten Leinwand stand: "Bereit wie nie." Neben dem Spruch jubeln Ilkay Gündogan, Julian Draxler, Manuel Neuer, Mats Hummels und Mario Götze auf diesem Bild. Gesichter, die für den überaus talentierten Kader stehen, von dem die meisten Experten den WM-Titel einfordern. Nur zwei der sechs Spieler haben es in den Kader für das Chile-Spiel geschafft.

Gündogan ist die Leitfigur des Motivs, aber in der Realität das größte Sorgenkind. Der Dortmunder hat aufgrund seiner Rückenprobleme seit August kein Spiel mehr bestritten und steht auch nicht kurz vor der Rückkehr in die Mannschaft. Selbst Löw konnte nicht mehr als Hoffnung in den Raum werfen. "Ob es reicht, weiß ich nicht, da bin ich überfragt."

Die aktuelle Situation sorgte für eine offensichtliche Diskrepanz zwischen Werbung und Wahrheit. Auch später, als Löw seinen Platz vor der Werbewand verließ und auf das Podium der Pressekonferenz wechselte, wurde seine Unruhe und Unzufriedenheit deutlich. Das DFB-Team ist nur bedingt bereit.

Chile die letzte Testsituation

Auch deshalb hat Löw seinen Kader für die Partie gegen Chile noch einmal kräftig durchgeschüttelt. Eine "Testsituation" sei das Spiel am Mittwoch. Es war die letzte Chance vor der vorläufigen Kadernominierung am 8. Mai "zu sagen, ich möchte noch den einen oder anderen Spieler sehen."

Die Nichtberücksichtigung von Draxler, Reus oder Adler begründete Löw zum einen mit den Verletzungen der letzten Wochen und Monaten. Aber: "Für einige ist es auch ein Appell und ein Weckruf", sagte Löw. "Die Uhr tickt. Nur wer sie hört, wird auch eine Chance haben."

Die Botschaft: Keiner soll sich sicher fühlen, (fast) jeder ist austauschbar. Nur wer sich an die Vorgaben hält, wird auch ein Ticket für Brasilien bekommen.

Mit den Neulingen Matthias Ginter, Shkodran Mustafi, Andre Hahn und Pierre-Michel Lasogga hat Löw seinen Pool Spielern noch mal vergrößert. Aufgrund des sich abzeichnenden Pokalfinals am 17. Mai zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund wird er auch eine Menge Spieler brauchen, um einen seriösen Kader für das Testspiel gegen Polen am 13. Mai zu benennen, ehe es am 21. Mai ins Trainingslager nach Südtirol geht.

Löw will Spieler überwachen

Es klang durch, dass er mit dem Verhalten und der Vorbereitung nicht von jedem zufrieden ist. Viele Spieler haben keinen Rhythmus oder stecken im Formtief. Der Bundestrainer machte auch klar, was er vor allem von den Profis erwartet, die nicht mehr der Dreifachbelastung unterworfen sind. "Sie sind aufgefordert individuell zu arbeiten und ihr Training zu optimieren."

Deshalb steht Löw in engen Kontakt mit seinen Spielern. "Ich werde die Spieler intensiv beobachten, sie in Anführungszeichen überwachen". Den 2013 eingeschlagenen Kurs und den angeschlagenen Ton hat Löw am Montag erneut verschärft. Er machte erneut deutlich, dass er keine Rücksicht mehr nehmen wird.

Von den Spielern erwartet er in den kommen Wochenenden trotz Ligaalltag Zusatzschichten, in mit dem DFB-Trainerteam abgesprochenen Bereichen. Für ihn ist die "Phase der Wahrheit und der Klarheit" gekommen.

Holprige Vorbereitung

100 Tage sind es noch bis zum Eröffnungsspiel der WM 2014 in Brasilien und die Vorbereitungen des DFB-Teams im sportlichen Bereich müssen als holprig bezeichnet werden. "Es ist schon richtig, dass wir das eine oder andere Probleme haben", sagte Löw.

Während Teammanager Oliver Bierhoff mit seinem Team an den logistischen Herausforderungen des Gastgeberlandes arbeitet und dort in bisher fünf Besuchen von der Auswahl des Quartiers bis hin zu den Fragen des Ablaufs vor Spielen (das deutsche Team reist zwei Tage vor dem Spiel in den Spielort) viele offenen Fragen gelöst hat, fehlt Löw genau diese Planungssicherheit.

Es ist nicht so, dass es andere Trainer deutlich leichter hätten, schließlich muss jeder Coach mit Verletzungen seiner Spieler bis kurz vor Turnierbeginn rechnen. Doch die vielfältige Verletztenliste, mit der sich Löw seit Wochen und Monaten auseinandersetzen muss, ist schon außergewöhnlich.

Ausnahme für Khedira

In jedem Mannschaftsteil plagen den Bundestrainer kleinere und größere Probleme. "Die nächsten zwei, drei Monate werden extrem wichtig", sagte Löw. Wie schon in den Wochen zuvor legte der Bundestrainer wert darauf, dass in Brasilien eine WM der Extreme stattfinden wird und nur absolut leistungsfähige sowie gut vorbereitete Spieler mitfahren dürfen.

Eine Ausnahmegenehmigung stellte er nur Sami Khedira aus, der nach seinem Kreuzbandriss schon wieder ins Lauftraining eingestiegen ist und reelle Chancen auf eine WM-Teilnahme hat. "Es gibt auch Spieler, die für die Mannschaft einen Mehrwert haben, wenn sie nur zu 80 oder 90 Prozent fit sind", sagte Löw.

Der Bundestrainer wird genau hinschauen, ob seine Botschaft angekommen ist. Denn am Ende, so formulierte es Löw, "schlägt die Realität die Theorie".

Der Kader für das Spiel gegen Chile