Eine Nominierung, sechs Fragen

Von Für SPOX in Stuttgart: Stefan Rommel
Joachim Löw ist seit 2004 Co-Trainer bzw. Trainer des DFB-Teams
© Getty

Der Beginn im Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart unterlag noch dem Diktat des Fernsehens. Um 12 Uhr und drei Minuten sollte die Veranstaltung starten, auf der Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader bekannt geben wollte.

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Von da an aber war es der Bundestrainer, der Takt, Rhythmus und Tonalität der Pressekonferenz bestimmte.

Löw war vom ersten Satz an damit beschäftigt, seine Auswahl zu begründen, er erzählte von der Komplexität seines Schaffens, den Unwägbarkeiten wie dem überraschenden Ausfall seines Stammtorhüters Rene Adler und vor allem: davon, den besten Mix zu finden - und nicht die besten Einzelspieler.

Am Ende der rund 45-minütigen Veranstaltung präsentierte der Bundestrainer einen 27-Mann-Kader, der ein wenig nach Konsens riecht, nach der obersten Instanz des Teamwork, der aber auch die eine oder andere Überraschung parat hatte.

Und der trotz seiner alles in allem nachvollziehbaren Komposition doch einige Fragen offen lässt.

VotingDein Team für die WM 2010: Welche 23 Spieler sollen zur WM?

Nach welchen Kriterien hat Löw nominiert?

Neben den Qualitäten auf dem Platz hat der Bundestrainer die Sozialkomponente auffällig oft in den Vordergrund gestellt.

"Fair Play wird ein wichtiges Thema: Wir repräsentieren 80 Millionen Deutsche bei der ersten Weltmeisterschaft auf dem afrikanischen Kontinent. Ich erwarte deshalb von jedem hundertprozentige Konzentration und Verantwortungsbewusstsein."

Im besten Fall wird die Mannschaft rund sieben Wochen zusammen sein, etwa 50 Trainingseinheiten stehen ab dem 12. Mai an, dazu mindestens sechs, im besten Fall zehn Spiele.

Nörgler und Querulanten kann Löw da nicht gebrauchen. "Ich erwarte von den Spielern, dass sie sich nach außen und innen korrekt verhalten." Die so genannten "Soft Skills" sind ein gefragtes Gut bei einer Mammut-Veranstaltung wie einer Fußball-Weltmeisterschaft. Löw hat deshalb ein ganz besonderes Augenmerk darauf gelegt.

Selbstredend in der bestmöglichen Kombination mit dem fußballerischen Potenzial jedes Einzelnen und wie dieser es in die Mannschaft einbringen kann.

"Es geht nicht darum, allwöchentlichen Empfehlungen Rechnungen zu tragen. Sonst hätten wir jede Woche neue Kandidaten. Wir haben Potenziale, Möglichkeiten und Qualitäten der Kandidaten erkannt, analysiert und bewertet", sagt Löw.

Weit mehr als 100 Bundesligaspiele, dazu noch die Partien in Champions und Europa League sowie dem DFB-Pokal habe das Trainerteam besucht, um letztlich zum vorliegenden Ergebnis zu kommen. "Der Kader ist ein Resultat wochen-, monate-, vielleicht sogar jahrelanger Analysen."

Die unübersehbare Blockbildung von Spielern der Bayern, aus Bremen, Hamburg und Stuttgart ist ein klares Signal dafür, dass Löw sehr wohl auch Einsatzzeiten auf internationalem Parkett honoriert.

Auch der zu erwartenden Kritik aus der Bundesliga wirkte Löw entschieden entgegen: "Wir wissen, dass wir es nicht jedem recht machen können. Aber das ist auch nicht unsere Aufgabe. Wir haben eine klare Vorstellung in punkto Zusammenstellung, Spielsystem, taktischer Ausrichtung - und der haben sich alle ein- und unterzuordnen."

Wer wird noch aussortiert?

27 sind vier zu viel. Am 1. Juni muss Löw den endgültigen Kader bei der FIFA melden. 23 Spieler darf er mitnehmen. Bis dahin "ist der Konkurrenzkampf in allen Mannschaftsteilen eröffnet".

Die drei Torhüter stehen fest. Unabhängig davon müssen aber vier Feldspieler ihren Traum von Südafrika noch vor dem Testspiel in Budapest gegen Ungarn (2. Juni) begraben.

Andreas Beck dürfte die schlechtesten Chancen haben. Der Hoffenheimer spielt eine mittelmäßige Saison und hat vor allem den in diesem Fall entscheidenden Standort-Nachteil, in seinem Portfolio auf die rechte Seite der Viererkette beschränkt zu sein.

Dort tummeln sich mit Jerome Boateng, Arne Friedrich, Heiko Westermann, Christian Träsch und natürlich Philipp Lahm zahlreiche Alternativen.

Auf der linken Seite ist die Situation für Dennis Aogo auch gefährlich. Zwar hat er seinen direkten Konkurrenten Marcel Schäfer in der Vorauswahl ausgestochen, sieht sich aber wie Beck auch großer Konkurrenz ausgesetzt.

Lahm und Westermann sind aussichtsreiche Kandidaten, dazu kommt HSV-Teamkollege Marcell Jansen. Der wird vom DFB offiziell im Mannschaftsteil "Abwehr" geführt. Allerdings hatte Jansen seine besten Szenen bei der EURO 2008 nicht unbedingt im Defensivverhalten.

Im Mittelfeld dürfte Piotr Trochowski einen veritablen Rückstand auf den Rest haben - sogar auf den Stuttgarter Christian Träsch. Der Hamburger spielt eine unterdurchschnittliche Saison, die Optionen im DFB-Team auf den Außenpositionen sind deutlich zahlreicher als im defensiven Mittelfeld.

Im Sturm hat Stefan Kießling trotz der besten Bundesliga-Saison seiner Karriere (21 Tore) die schlechtesten Karten - sollte Löw seinem Plan mit fünf Angreifern treu bleiben. Kießling hat keine herausragende Einzelqualität, sondern ist eher der Allrounder.

Sehr spannend und grundlegend wird die Frage sein, ob sich Löw vom erwarteten Schema mit drei Torhütern, acht Verteidigern, sieben Mittelfeldspielern und fünf Angreifern entfernt und kurzfristig noch improvisiert, indem er zum Beispiel noch einen Verteidiger für einen Angreifer "opfert".

Gibt es einen neuen Dreikampf um das deutsche Tor?

Auffällig war, dass Löw den nachnominierten Jörg Butt nicht explizit als Nummer drei vorstellte. Die interne Rangfolge steht demzufolge noch lange nicht fest: "Heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu reden. Wir werden dies zu gegebener Zeit bekanntgeben."

Löw möchte mit seinem Assistenten Hansi Flick und vor allem Torwarttrainer Andreas Köpke "nochmals reden". Die Mannschaft scheint in der Torhüterfrage wieder im Spätsommer 2009 angekommen, als Robert Enke, Rene Adler und Manuel Neuer um die Nummer eins stritten - nur dass die Protagonisten bis auf Neuer andere sind.

Immerhin bezog Löw aber noch klar Stellung zur Personalie Jens Lehmann. "Ich möchte mich zu den Aussagen von Jens Lehmann eigentlich gar nicht mehr äußern. Aber eins kann man sagen: Lehmann war in unserer Entscheidungsfindung kein Thema."

Ist der Kader nicht zu unerfahren?

Ein paar Zahlenspiele: Sieben U-21-Europameister sind dabei, 15 Spieler haben weniger als zehn Länderspiele auf dem Buckel. Von der WM-Mannschaft von vor vier Jahren sind lediglich acht Akteure übriggeblieben.

Löw geht den mutigen Weg, der Kader hat fast schon so etwas wie Perspektivcharakter für die Europameisterschaft 2012. Augenscheinlich wird die Tatsache beim Blick auf den Nebenspieler von Michael Ballack.

Von den ehemaligen Mitstreitern des Kapitäns hat es auf Grund unterschiedlichster Gründe keiner in den Kader geschafft. Also geht Löw durchaus ein Risiko, mit Träsch und Sami Khedira zwei völlig unerfahrene und in Bastian Schweinsteiger zwar einen erfahrenen, aber mit Ballack auf einer Kernposition nicht eingespielten Spieler einzuberufen.

Wer sind die großen Verlierer?

In erster Linie alle Nichtnominierten, hier speziell aber Thomas Hitzlsperger und Kevin Kuranyi. Hitzlsperger war spätestens seit der EM 2008 ein fester Bestandteil der Mannschaft und hat in der Qualifikation einen Großteil der Spiele von Beginn an absolviert.

Der Wechsel von Stuttgart zu Lazio Rom in der Winterpause sollte eine verkorkste Saison retten und das WM-Ticket sichern - er erwies sich im Nachhinein aber als persönliches Fiasko für Hitz. "Es war schwer, Thomas am Mittwochabend abzusagen. Er war die letzten Jahre immer ein Teil von uns", sagte Löw.

Kuranyi erlangte von Löw zwar die grundsätzliche Legitimation zurück, unter ihm für den DFB zu spielen, musste sich aber letztlich sportlichen Gesichtspunkten beugen. Eine bei 18 Saisontoren zwar bittere, aber in der Gesamtheit betrachtet auch nachvollziehbare Entscheidung.

Es gibt aber noch andere, heimliche Verlierer: Mats Hummels etwa, der insgeheim doch bis zuletzt noch mit einem Anruf gerechnet hatte. Ebenso wie Benedikt Höwedes von Schalke 04. Oder die Wolfsburger Marcel Schäfer und Christian Gentner.

Auch Bremens Aaron Hunt ist dazu zu zählen und Gonzalo Castro, den zu viele Verletzungen immer wieder aus der Bahn warfen. Und natürlich dessen Mitspieler bei Bayer Leverkusen, Patrick Helmes, der nach seinem Kreuzbandriss im Sommer vergangenen Jahres den Anschluss völlig verpasst hat.

Welche Bedeutung hat die Nominierung für das Malta-Spiel?

Dass Löw zwar den Leverkusener Stefan Reinartz, dafür aber nicht Schalkes Höwedes für den Test am kommenden Donnerstag nominiert, ist nicht ganz nachvollziehbar.

Hummels "nur" für das Spiel in Aachen zu bestellen und Holger Badstuber dafür in den erweiterten Kader, erklärte Löw mit der rasanten Entwicklung Badstubers in dieser Saison und der Abgeklärtheit, mit der der Münchener in seiner ersten Saison bei den Profis mittlerweile glänzt. Allerdings träfen diese Faktoren ebenso auch auf Hummels zu.

Die Nachwuchskräfte Tobias Sippel, Kevin Großkreutz und Marco Reus reinschnuppern zu lassen, darf als netter Zug von Löw gelten - und im Fall von Großkreutz vielleicht auch ein bisschen als Kalkül - schließlich fand dessen Dortmunder Vereinskollege Roman Weidenfeller keine Berücksichtigung.

Kadernominierung: Sieben Bayern und zwei Neue