BVB: Eine fette Portion Sahne

Borussia Dortmund siegte gegen Legia Warschau mit 8:4
© getty

Borussia Dortmund erlebt im Spiel gegen Legia Warschau einen unvergesslichen Abend mit insgesamt 12 Toren. Auch Marco Reus ist zurück und schießt sich mit zwei Buden zurück ins Rampenlicht. Doch zahlreiche Rekorde und die Gala des Comebackers überdecken andere wichtige Aspekte.

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Thomas Tuchel ist ein absoluter Fachmann. Selbst Sekunden nach dem Spiel hat er stets eine messerscharfe Analyse in der Westentasche. Am späten Dienstagabend wirkte jedoch auch er zunächst ratlos. Am Mikrofon von Sky wurde gefragt, wie denn so ein solches Spiel einzuordnen sei. Über Tuchels Kopf stiegen Fragezeichen auf. "Keine Ahnung, ich habe so etwas auch noch nicht erlebt. Es ist ja schließlich auch meine erste Champions-League-Saison. Ich weiß nicht, ob man diesem Spiel mit diesem Ergebnis so sachlich begegnen kann", versuchte sich der Dortmunder Trainer herauszureden.

Gleich vier Tore kassierte der BVB in den 90 Minuten zuvor. Normalerweise ein Unding für den Perfektionisten. Trotzdem bekam er das Grinsen nicht aus dem Gesicht. Zu "surreal" sei das alles gewesen, gibt Tuchel zu. Acht Tore erzielte sein Team gegen Legia Warschau und trug sich somit gleich auf mehreren Seiten der Champions-League-Geschichtsbücher mit einem dicken schwarzengelben Edding ein: die meisten Tore in einem CL-Spiel, die meisten Tore nach dem fünften Spieltag der Gruppenphase, die meisten Tore auf deutschem Boden im Europapokal. Auch der hauseigene Torrekord aus dem Jahr 1965, ein 8:0 gegen Floriana FC aus Malta, wurde eingestellt. Ohne Frage ein Spiel für die Historie.

Dabei sah zunächst eigentlich alles gar nicht danach aus. Noch vor Spielbeginn tauchte auf einmal Marc Bartra im UEFA-Spielberichtsbogen auf, obwohl Tuchel eigentlich Sokratis gerne in der Startelf gesehen hätte. Der BVB versuchte zwar, das Missgeschick zu korrigieren, doch der Verband blieb stur. "Wir hatten ein kleines Missverständnis, das sich aber in Wohlgefallen aufgelöst hat", ordnete der Coach ein. Auch im Spiel gab es zunächst die kalte Dusche. Aleksandar Prijovic tanzte nach zehn Minuten die Dortmunder Abwehr aus und schlenzte zum 1:0.

Traumcomeback von Reus

Der BVB wischte sich jedoch einmal den Mund ab, steckte das Messer zwischen die Zähne und walzte los. Innerhalb von 19 Minuten erzielten die Schwarzgelben fünf Tore (ebenfalls Champions-League-Rekord) und ließen die Warschauer Hintermannschaft ein uns andere Mal wie eine miserable Kreisliga-Mannschaft aussehen. Dabei machten die Polen das bis zum 1:1 eigentlich ganz ordentlich und verbarrikadierten sich in der Defensive teilweise mit einem 6-3-1. Doch mit dem Ausgleich brach das Kartenhaus zusammen, die Einzelteile wurden vom BVB-Wirbelsturm aus dem Stadion geblasen.

Ein Spieler schaffte es dabei noch, aus dem wilden Offensiv-Kollektiv herauszustechen: Marco Reus. Exakt 185 Tage nach seinem letzten Pflichtspieleinsatz im Pokalfinale gegen den FC Bayern stand der 27-Jährige erstmals wieder für den BVB auf dem Platz und feierte ein Comeback wie aus dem Märchenbuch: Drei Tore erzielte er vermeintlicherweise selbst, eines wurde von der UEFA im Nachgang als Eigentor von Jakub Rzezniczak gewertet, ein weiteres bereitete er vor.

"So stellt man sich einen Einstand nach so langer Zeit vor. Ich habe in der Vorbereitung sehr hart dafür trainiert. Das war heute ein wichtiger Schritt für mich", sagte der Held des Abends nach dem Spiel.

Keine leeren Worthülsen. Es war Reus nach dem Spiel deutlich anzumerken, wie nahe ihm das Traumcomeback ging. Direkt nach dem Spiel schnappte er sich den Ball als Erinnerung an diesen sowieso schon unvergessliche Nacht. "Ich werde alle Spieler darauf unterschreiben lassen. Anschließend bekommt er oben auf meinem Regal einen besonderen Platz", sagte Reus nach dem Sieg strahlend.

Nicht "totgequält"

Dass die fürchterlich desorientierte Hintermannschaft der Polen den perfekten Einstand erst möglich machte, kann sowohl dem 27-Jährigen selbst als auch Dortmund völlig egal sein. Viel wichtiger als sein Doppelpack scheint im schwarzgelben Lager sowieso die Tatsache, dass er überhaupt wieder da ist. "Im Sommer sind uns drei wichtige Spieler weggebrochen und plötzlich war mit Marco, der seit dem Pokalfinale fehlt, noch ein vierter weg. Wir haben ihn als feste Stütze eingeplant, deshalb erwarteten wir das Comeback sehnsüchtig", erklärte Tuchel.

Direkt über die komplette Spielzeit ließ der Coach den 27-Jährigen von der Leine. Es sei wichtig gewesen, dass er sich nicht direkt "totgequält" habe, erklärte Reus. Nur so kann er wieder zu alter Stärke zurückkehren. "Natürlich fehlen mir noch ein paar Prozent, um einhundert Prozent fit zu sein", so der Comebacker.

Das Rekordspiel und das Spektakel von Reus ließ allerdings sowohl positive als auch negative Dinge verschwinden. Da ist zum einen Ousmane Dembele, der im Reus-Schatten eine Gala-Vorstellung ablieferte. Sogar an vier Toren war er beteiligt (ein Tor, drei Vorlagen) und reihte sich somit in die oben bereits angesprochene Dortmunder Ehrengalerie ein. Nur ein gewisser Wayne Rooney schaffte es zude, noch früher, die Marke von vier Torbeteiligungen in einem CL-Spiel zu erreichen.

Auch negative Seiten

Das Torfestival mutierte zeitgleich jedoch auch zu einer Art Deckmantel, der sich zumindest teilweise über die Leistung der Defensive legte. So störte es nach dem Spiel nur noch Wenige, dass Dortmund erstmals in der CL-Geschichte vier Gegentore kassierte. Viel zu passiv und zu unentschlossen rückte die BVB-Abwehrreihe teilweise heraus und machte dadurch das wilde Hin- und Her erst möglich. Keeper Roman Weidenfeller war einer von denen, die den Zeigefinger hoben. "Es gibt Punkte über die wir nochmal sprechen sollten. Wir müssen ein anderes Verhalten in der Verteidigung an den Tag legen. Da muss man entsprechend aggressiv zur Sache gehen und die Räume schließen. Wir hätten keine vier Dinger fangen dürfen", meckerte Dortmunds Torhüter.

Dem BVB-Keeper fiel es deshalb schwer, den Sieg nach dem Spiel richtig einzuordnen: "Es ist natürlich toll, im Stadion gewesen zu sein, aber als Torwart ist es sehr bescheiden." Was dieses Spektakel wirklich wert ist, zeigt sich wohl erst in zwei Wochen. Aktuell ist das 8:4 nicht das schmackhafte Sahnehäubchen, sondern eine etwas zu fette Portion Sahne auf der Torte, die es nach dem Sieg gegen den FC Bayern gab. Ein Beigeschmack bleibt trotz der zwei Siege.

"Ich werde gut schlafen"

Denn für die Champions League hat der Sieg zumindest wenig direkte Auswirkungen. Da Real zeitgleich knappt siegte, entscheidet sich der Gruppensieg sowieso erst im schweren Spiel bei den Königlichen. Sollte Dortmund einen Punkt holen, umgehen die Schwarzgelben den dicken Brocken im Achtelfinale. Doch bis dahin muss die Defensive - wenn auch mit anderem Personal - eine ganz andere Stabilität aufweisen.

Das weiß auch BVB-Coach Tuchel. Er brachte auch gegen Ende des recht ausführlichen Interviews das Grinsen nicht aus dem Gesicht. Ob er denn nach so einem überhaupt schlafen werde, wollte der Moderator wissen. Der Trainer lachte laut und sagte: "Auf jeden Fall. Da unterschätzen sie meine selbstkritische Ader. Das erlauben wir uns nach den zwei Spielen."

Borussia Dortmund - Legia Warschau: Die Statistik zum Spiel