Von allen guten Geistern verlassen

Von Stefan Rommel
Bedient: Kapitän Rolfes und Co. nach der höchsten Heimniederlage der Bayer-Europacupgeschichte
© getty

Bayers Spiel des Jahres geriet zur Farce. Wieder einmal konnte die Mannschaft in der Königsklasse ihr Potenzial nicht abrufen. Der Trainer hofft nun endlich auf einen Lerneffekt. Die Chance auf das Achtelfinale ist schließlich trotz der herben Enttäuschung noch am Leben.

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Wenn einen die steilen Tribünen im Old Trafford empfangen und 70.000 Fans, der Mythos Manchester United einem beinahe die Luft zum Atmen nimmt, dann kann man Angst bekommen. Zumindest aber Respekt vor dem, was einen selbst als gestandenen Profi da draußen gleich erwarten wird.

Den Spielern von Bayer Leverkusen ist dies so ergangen vor ein paar Wochen. Im ersten Champions-League-Spiel nach einem Jahr Unterbrechung und dem 1:7 von Barcelona verlor Bayer in Manchester ohne große Gegenwehr mit 2:4. Die Auswärtsfahrt geriet zu einer Tour der Ehrfurcht vor den Autoritäten des Weltfußballs. Vor Ryan Giggs, Robin van Persie, Wayne Rooney.

Die Einordnung der Niederlage vom September erreichte am Mittwochabend nochmal eine neue Kategorie. Dass es noch schlimmer geht, dass der Abstand zu einem großen Namen des kontinentalen Fußballs so immens sein würde und dass Bayer Leverkusen so in der Königsklasse nichts zu suchen hat. Das war in der Art kaum vorherzusehen, dafür ist es nun umso ernüchternder.

Keine schlechten Voraussetzungen

Die Werkself durfte United im eigenen Stadion empfangen, der Gegner war einigermaßen ersatzgeschwächt - immerhin fehlten Nemanja Vidic, Marouane Fellaini und van Persie. Manchester ist immer noch mehr mit sich selbst beschäftigt und dem Wechsel von Alex Ferguson hin zu David Moyes. Tabellenplatz sechs in der Premier League belegt den Umbruch, United hat in der heimischen Liga erst sechs von zwölf Spielen in der laufenden Saison gewonnen.

Leverkusen dagegen ist Zweiter in der Bundesliga und damit momentan die einzige Mannschaft, die noch einigermaßen mit den Bayern mithalten kann. Die letzten Partien wurden vielleicht nicht besonders überzeugend geführt, zumindest stimmten aber die Ergebnisse.

Zu Hause blieb Bayer zehnmal in Folge ungeschlagen, Manchester konnte die letzten vier Auswärtsspiele nicht gewinnen. Man konnte durchaus behaupten, dass die Voraussetzungen für einen Erfolg gegen Manchester United nicht die schlechtesten waren.

Von wegen "Geist von 2002"...

Herausgekommen ist ein 0:5 (0:2), die höchste Heimniederlage von Bayer Leverkusen in deren Europapokalhistorie. Ein Desaster, durch nichts schönzureden oder zu erklären.

Der Geist von 2002, der im Vorfeld bemüht wurde - offenbar, um sich selbst ein wenig Mut einzuflößen - wurde mit Füßen getreten. Das Leverkusen von 2013 hat nicht die Mentalität der 2002er-Finalisten, die United in zwei mutigen Partien damals aus dem Wettbewerb warfen. Wenngleich auch das Ausscheiden noch längst nicht klar ist. Zumindest diese Erkenntnis lieferte der Abend.

Die großen Töne, die einzelne Spieler im Vorfeld angeschlagen hatten, erscheinen nach einer derartigen Demontage wie aus einer anderen Welt. "Wir sind zu Hause eine Macht. Da muss uns erst mal einer schlagen - das gilt auch für Manchester", sagte Stefan Kießling. Torhüter Bernd Leno ging sogar noch einen Schritt weiter, sprach in der "Sport-Bild" indirekt von einem möglichen Finaleinzug.

Große Worte, kaum etwas dahinter

"Mit etwas Losglück können wir den Weg von Dortmund gehen. Wir haben uns eine super Ausgangslage geschaffen und können zu Hause jeden Gegner schlagen. Auch Manchester United und so ins Achtelfinale einziehen." Bayer hätte beherzt zuschnappen können, mit einem Sieg wäre in der anspruchsvollen Gruppe der Einzug in die K.o.-Runde vorzeitig perfekt gewesen.

Aber Leverkusen zeigte wieder einmal ein Gesicht, das dem Werksklub nach eigenem Ermessen so gar nicht steht. Teile der Mannschaft und einige Verantwortliche zeigten sich in den letzten Monaten in ihren Leistungen nicht genug gewürdigt. Kießling, Rudi Völler, Simon Rolfes - sie alle beklagten die fehlende Wertschätzung von Öffentlichkeit und Medien. "Von uns wird bloß berichtet, wenn es negativ wird", sagte etwas Kießling.

Der Mittwochabend bot dem Team einen großen Rahmen und ein Live-Spiel im frei empfangbaren Fernsehen. Eine Bühne wie gemalt, um sich etwas von dieser eingeforderten Wertschätzung zurückzuholen. Und dann das. Bayer schaffte es tatsächlich zum zweitenmal, ein in dieser Saison eher mittelprächtiges United groß erscheinen zu lassen.

Calmund haut schonungslos drauf

"Das hatte mit Champions-League-Fußball nichts zu tun. Das ist nicht zu akzeptieren oder schönzureden", war Ex-Manager Reiner Calmund bei "Sky" sichtlich geschockt. "Dass einige Spieler dann nach Fehlern auch noch gestikulieren und andere anmeckern, finde ich zum Kotzen. Das ist das Allerletzte."

Weniger plakativ, zwischen den Zeilen aber mindestens genauso erbost formulierte Rudi Völler seine Sicht der Dinge. "Wir hatten das Gefühl in den letzten Tagen, dass wir mithalten könnten gegen Manchester und unseren Fans ein tolles Spiel liefern würden. Aber wir haben es nicht geschafft, auf diesem Niveau mitzuhalten. Das ist eine Blamage, das muss man so sagen. Der Respekt viel zu groß, es war auch ein bisschen Angst dabei."

Wieder einmal war der Respekt viel zu groß. Natürlich ist es beeindruckend, wenn ein Spieler wie Ryan Giggs in der Mittelfeldzentrale die Fäden zieht, als wäre er 24 und nicht 39. Als der Waliser bereits sein zweites Jahr bei den Red Devils spielte, wurde etwa Bernd Leno erst geboren. Nebensächlichkeiten, die man kurz im Kopf haben darf. Die das eigene Spiel aber nicht in der Art beeinflussen dürfen.

"Da müssen die Jungs jetzt durch"

Statistiken sind oftmals mit Vorsicht zu genießen, weil sie die Dinge gerne auch verzerren. Dass ein Spieler wie Rolfes, Kapitän und Führungsfigur und im richtigen Leben defensiver Mittelfeldspieler im Zentrum des Spiels, am Ende der wichtigsten Partie für Leverkusen seit einiger Zeit am Ende mit nur elf Prozent gewonnener Zweikämpfe rausgeht, ist kaum zu erklären.

"Wir werden jetzt stark kritisiert - aber da müssen die Jungs und auch der Trainer, der ja so eine Situation auch noch nicht erlebt hat, jetzt durch", sagt Völler und richtete den Blick gleich nach vorne. Der 10. Dezember ist jetzt das nächste große Ziel, die Partie bei Real Sociedad.

Trotz zwei ernüchternder Niederlagen mit 2:9 Toren gegen United bleibt für Bayer die Tür zur Runde der besten 16 Mannschaften in Europa noch offen. Die gute Ausgangslage ist jetzt zwar weg, Leverkusen kann auch nicht mehr aus eigener Kraft ins Achtelfinale einziehen. Ein Sieg bei den Basken würde die Sache aber gleich wieder positiv drehen. Leverkusen genügt es, am letzten Spieltag mehr Punkte zu holen als Kontrahent Schachtjor Donezk. Und die Ukrainer müssen immerhin in Manchester ran.

Hyypiä hofft auf den Lerneffekt

"Wir müssen jetzt in Spanien gewinnen", sagte Sami Hyypiä nach dem Spiel am Mittwoch. Unmöglich ist das nicht, San Sebastian ist abgeschlagen Letzter mit nur einem Punkt und einem erzielten Tor. Die Spanier, in der abgelaufenen Saison überraschend Vierter der Primera Division, haben sich mit der Königsklasse verhoben. Bayer Leverkusen hat die Gelegenheit, das in dieser Saison noch zu verhindern.

Dafür müssen aber schnell eine andere Einstellung und eine neue Mentalität her. Die handwerklichen Fähigkeiten sind allemal vorhanden, um in San Sebastian zu gewinnen.

"Das war eine Lehrstunde für uns. United hat von unseren Fehlern profitiert. Ich hoffe, dass so ein Spiel gut ist für die Zukunft und wir daraus lernen. Wir müssen hart arbeiten", sagt Hyypiä. "Wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen."

Wenigstens das war eine absolut zutreffende Einschätzung. Und immerhin: Das Estadio Municipal de Anoeta ist ja nicht das Old Trafford.

Leverkusen - Manchester United: Die Statistik zum Spiel

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