Weil Tito fehlt...

Von Stefan Rommel
Barca-Coach Tito Vilanova wird derzeit zum zweitenmal wegen eines Krebsleidens behandelt
© getty

Die Schwächephase des FC Barcelona ist eng verbunden mit der Abstinenz von Trainer Tito Vilanova. So gefährlich die Partie gegen Milan (Di., 20.30 im LIVE-TICKER) sein kann, liegt darin doch eine große Chance für Barca.

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Der FC Barcelona nimmt für sich selbst in Anspruch, mehr als ein Klub zu sein. Und sehr wahrscheinlich ist gerade diese Mannschaft auch anders zu führen als unzählige andere.

Nach Außen gibt es den Barca-Stil, den mittlerweile jedes Kind kennt und der augenscheinlich auch in kritischen Situationen immer nach Schema F vorgetragen wird.

Die Meister der Weiterentwicklung

Aber selbst diese unverrückbare Ideologie bedarf einer ständigen Veränderung im Kleinen. Das ist die eigentliche Kunst, die Barca in den letzten Jahren so unnahbar gemacht hat für den Rest. Sich in den Details zu verlieren, unzählige kleine Stellschrauben zu justieren, sein eigenes Spiel so weiterzuentwickeln, dass auf dem Platz immer nur eine Mannschaft agiert: der FC Barcelona.

Josep Guardiola war der Meister dieser Weiterentwicklung. Es gab auch unter dem erfolgreichsten aller katalanischen Trainer immer wieder Phasen, in denen es eng wurde. Als es anderen Mannschaften gelang, gegen Barca zu bestehen. Wenn das System einmal, vielleicht zweimal überrumpelt wurde.

Guardiola machte sich in den Trainingseinheiten dann auf die Suche nach alternativen Positionen seiner Angriffsspieler innerhalb des Systems. Verrückte Xavi, Messi, Iniesta, Pedro um ein paar Meter, gab ihnen neue Aufgabenstellungen mit auf den Weg. Schon hatte Barcelonas Spiel wieder neuen Effekt und war für den Gegner kaum zu fassen.

Spiel in der Endlosschleife

Derzeit hängt das Barca-Spiel aber in einer Endlosschleife - und es gibt offenbar niemanden, der es da herausholen könnte. Francesc Vilanova, den die Welt nur Tito nennt, hat sein Büro über den großen Teich mitgenommen. Am Bildschirm sichtet er manchmal in Echtzeit das Training seiner Mannschaft.

Am Ciutat Esportiva Joan Gamper hat der Verein eine Kameraanlage installiert. Sie sendet die Bilder vom Trainingsgelände nach New York. Vilanova ist seit 21. Januar dort, seitdem unterzieht er sich einer Strahlen- und Chemotherapie, nachdem Ende 2012 erneut Ohrspeicheldrüsenkrebs bei ihm festgestellt wurde.

Im Memorial Sloan-Kettering Cancer Center sitzt Vilanova dann zwischen seinen Behandlungsterminen am Laptop, telefoniert mit der Heimat und seinem Stellvertreter Jordi Roura. Der Patient Vilanova erstellt dann die Ferndiagnose für seinen ganz eigenen Patienten. Er rufe sogar während der Spiele an, um seine Sicht der Dinge bis an die Trainerbank zu übermitteln.

Unternehmen ohne Produktionschef

In fast 7000 Kilometern Entfernung muss er sich aber letztlich wie jeder andere Zuschauer auch an den sicht- und messbaren Fakten orientieren. Tito Vilanova bekommt die Stimmen und kleinen Stimmungen nicht mit. Die Strömungen und Zwischentöne innerhalb der Mannschaft, ihren Geist und ihre Zweifel. Es bleiben die kalten Eindrücke, übermittelt via Internet. Es fehlt an Interaktion und eindringlicher Kommunikation. Tito fehlt.

"Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, dass uns Titos Abwesenheit nicht weh tut", gestand Andres Iniesta vor drei Wochen. "Es ist nicht normal, dass der Trainer nicht da ist, und das ist nicht einfach."

Sein Präsident Sandro Rosell wählte eine einfache Metapher. "Wenn der Anführer nicht da ist, dann hat das natürlich Auswirkungen auf die Mannschaft", erklärte der Barca-Boss. "Stellen Sie sich das so vor, als müssten ein Unternehmen oder eine Fabrik auf seinen Produktionschef verzichten. Tito ist unser Leader."

Auch Barca braucht einen Trainer

Und ohne den Anführer entstehen Reibungsverluste, die jeder Mannschaft dieser Welt über kurz oder lang Schwierigkeiten bereiten würden. Schließlich hat die Mannschaft innerhalb einer sehr kurzen Periode jetzt den zweiten Trainer verloren; wenngleich Vilanova auch nur auf absehbare Zeit.

Davor ist auch der FC Barcelona nicht gefeit. Jenes Team, von dem Guardiolas Neider immer behauptet hatten, es würde auf Grund seiner unglaublichen Einzelkönner auch ohne Trainer so ziemlich alles gewinnen. Derzeit wird deutlich, wie deplatziert eine solche These ist.

Trotzdem halten sich die üblichen Fragen hartnäckig: War ein gewisser Leistungsabfall bei einer Mannschaft, die fünf Jahre lang den Weltfußball dominiert hat, nicht vorhersehbar? Sind die Spieler satt, erschöpft? Ist gar die Barca-Matrix entschlüsselt? Und wieder einmal steht die Forderung nach einem so genannten Plan B im Raum.

Tito weg, Schwächephase beginnt

Nur wird es den in naher Zukunft auch unter Trainer Vilanova nicht geben. Die Hinrunde mit 18 Siegen und einem Remis gegen Real Madrid bedeutete die beste der Vereinsgeschichte, selbst Guardiola ist ein solcher Durchmarsch nicht gelungen.

Es kann kein Zufall sein, dass Barcas Schwächeperiode einhergeht mit Vilanovas Abreise gen New York. Zum Aus im spanischen Königspokal mit einem herben 1:3 gegen Real gesellte sich ja nicht nur die blasse Vorstellung beim 0:2 gegen den AC Milan, sondern auch wettbewerbsübergreifend 13 Spiele in Folge mit mindestens einem Gegentor. Barca quälte sich selbst gegen kleine Gegner zu seinen Siegen, zumeist initiiert durch Leo Messi.

Die Mannschaft durchlebt derzeit eine heikle Phase. Die Meisterschaft ist bei 13 Punkten Vorsprung auf Real Madrid nur noch eine Pflichtaufgabe. In der Champions League droht aber wie schon in der Copa del Rey das frühe Ausscheiden, was gleichbedeutend wäre mit einem gefühlten Ende der Saison Mitte März. Eine völlig neue Vorstellung für die Katalanen.

Kombinationsspiel und Pressing als Problem

Also lebt die Hoffnung auf den "alten" FC Barcelona. Für das Rückspiel im Champions-League-Achtelfinale gegen den AC Milan heißt das: Dieser "Schatten seiner selbst" ("El Mundo") ist immer noch in der Lage, in einem einzigen Spiel alle Kräfte zu mobilisieren, einen glanzvollen Abend zu erwischen. Die jüngste Geschichte der Champions League ist voll von solchen Anekdoten, zuletzt lavierte sich der FC Chelsea bis an die Spitze Europas.

Immerhin hat die Mannschaft am Wochenende endlich mal wieder eine Partie ohne Gegentreffer absolviert. Dass der Gegner im Heimspiel der Tabellenletzte Deportivo La Coruna war, ist eher zweitrangig. Es geht um das Gefühl von Sicherheit und die Gewissheit, dass Barca noch nicht alles verlernt hat.

Dass die Passmuster wieder klarer werden. Zuletzt liefen die Spieler zu viel mit dem Ball. Diese unsichtbare Kommunikationseben der Pässe war abgerissen. Barcas Spieler, so sagt man, würden im Spiel nicht verbal, sondern mit Hilfe der unzähligen kurzen, langen, harten, geschmeidigen Zuspiele untereinander kommunizieren. Vermutlich liegt hier zusammen mit dem schlecht funktionierenden Pressing das derzeit größte Problem.

Milan: Gefahr und Chance

In der Partie gegen Milan liegen für Barca Gefahr und Chance zugleich. Ein Ausscheiden zu diesem frühen Zeitpunkt gab es zuletzt vor sechs Jahren, damals in zwei denkwürdigen Spielen gegen den FC Liverpool. Dass sich der Klub auch nur Übergangsweise nach einer Alternative für Vilanova umschauen könnte, kam für die Katalanen nie in Frage.

"Die Vereinsführung steht bedingungslos hinter Tito Vilanova. Wir werden solange auf ihn warten, wie es nötig ist. Titos Rehabilitation hat die allerhöchste Priorität. Wir werden zu ihm stehen, auch wenn es uns alle Trophäen dieser Saison kosten würde", betont Rosell.

Mittlerweile ist eine Rückkehr von Vilanova gar nicht mehr so weit entfernt. Ende März oder Anfang April will der 44-Jährige wieder zurückkehren. Praktischerweise steigen da auch die Viertelfinals in der Königsklasse.

Wenn Gerard Pique sagt, dass die Mannschaft die Situation jetzt meistern werde, kann das für Zukunft auch heißen: Wenn wir das jetzt schaffen und Tito dann zurückkommt, sind wir stärker denn je.

Dann ist die Familie wieder komplett und vielleicht auch wieder jenes Gefühl da, dass diesen Klub offenbar einzigartig macht. "Nicht nur die Spieler oder der Präsident machen den Klub aus. Vielmehr sind es die Menschen, die zu unseren Spielen kommen oder die alten Männer in den Bars, die Domino spielen und über Barça reden", hat Tito Vilanova einmal gesagt.

Er hat in seiner aktiven Zeit auch schon für andere Klubs gearbeitet. Dem Klub, der seine Zuneigung jetzt auf diese besondere Art erwidert, gehört sein Herz aber vom ersten Moment an. "Mich zu fragen, warum ich Barca liebe, ist wie mich zu fragen, warum ich meine Eltern liebe."

Das ist der FC Barcelona