Die Zentimeter zum Glück

Von Andreas Lehner
Der FC Barcelona feiert das 3:0 von David Villa gegen den AC Milan
© getty

Der FC Barcelona feiert die Magie des Camp Nou und ein historisches Comeback. Das Spiel der Katalanen gegen den AC Milan war beeindruckend frisch, aggressiv und leidenschaftlich. Von Krise, Selbstzweifel oder gar Depression war nichts zu spüren. Es hätte alles aber auch ganz anders laufen können.

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Wer geglaubt hatte, diese Mannschaft des FC Barcelona hätte in den letzten Jahren schon alles erlebt, der sah sich getäuscht. Obwohl die Katalanen den europäischen und den Weltfußball seit einiger Zeit prägen und dominieren, fehlte dieser Generation eine Aufholjagd von historischer Dimension. Stratege Xavi war es, der vor der Partie diesen Mangel beklagte.

Diesen Makel hat Barca mit einem 4:0 über den AC Milan jetzt beseitigt. In den vergangenen Champions-League-Spielzeiten waren die Katalanen immer an dieser Herausforderung gescheitert. Erst gegen Inter 2010, dann gegen Chelsea 2012. Immer fehlte ein Tor, um den Rückstand aus dem Hinspiel zuhause auszumerzen.

Ein berauschtes Camp Nou

Am Dienstagabend durfte das Camp Nou endlich seine "remontada", wie das im Spanischen heißt, bejubeln. Mit einer grandiosen Choreografie stimmten die Anhänger ihr Team und auch die Gäste darauf ein, was sie in den kommenden 90 Minuten erwarten würde: Ein Fußballfest vor 96.000 fanatischen Anhängern.

Es war ein historischer Abend: Nie zuvor hat ein Team eine 0:2-Auswärtsniederlage noch umdrehen können. Seit einigen Jahren habe er keine Atmosphäre mehr wie diese im Camp Nou erlebt, berichtete Xavi hinterher. Die Zuschauer seien entscheidend und herausragend gewesen, meinte Trainer Jordi Roura.

Weg von der Zeitlupe

Auch die Seele der Fans hatte zuletzt gelitten, weil ihrem Team von allen Seiten das Ende ihrer Dominanz prognostiziert wurde. Am Dienstag entlud sich alles in diesem Spiel gegen den AC Milan. Die Italiener hatten Barca vor drei Wochen im heimischen San-Siro-Stadion noch kontrolliert und wie eine Zeitlupenversion seiner selbst aussehen lassen.

Im Rückspiel spielte Milans Defensive nicht so geordnet und fehlerfrei, was natürlich auch an einem stark verbesserten Barca lag. Die Kritiken der jüngeren Vergangenheit waren nicht gänzlich unberechtigt, auch wenn sie vielleicht zu endgültig formuliert wurden. Barca fehlte es in Mailand und in den beiden verlorenen Clasicos gegen Real Madrid an Frische und Esprit, die Kraft zur Erneuerung fehlte.

Doch plötzlich war all das wieder zurück, die Leidenschaft war in jeder Aktion spürbar. Barca drückte von der ersten Minute aufs Tempo, das Gegenpressing funktionierte, bei Ballverlust wurde der Gegner sofort gejagt und das Passspiel war pfeilschnell und präzise. Es waren diese letzten Prozentpunkte in Sachen Motivation und die wenigen Zentimeter, die einen guten Pass von einem fantastischen Pass unterscheiden, die Barcas Spiel wieder einzigartig machten.

Eine Lektion von Messi

"Die beste Mannschaft der Welt", hat Milan-Trainer Massimiliano Allegri gesehen. Eine Mannschaft mit herausragenden Protagonisten wie Xavi, Andres Iniesta und Lionel Messi. Der Argentinier, im Hinspiel noch gefangen im Netz der Milan-Verteidiger, zeigte schon nach fünf Minuten, dass es dieses Mal ein anderes Spiel werden würde. Sein Doppelpass mit Xavi und der anschließende Abschluss auf engstem Raum machten den Unterschied zum Hinspiel.

Für Messi waren es die ersten Tore gegen eine italienische Mannschaft aus dem Spiel heraus. Zuvor hatte er in neun Partien zwar drei Treffer erzielt, alle aber vom Elfmeterpunkt. "Leo hat uns eine majestätische Lektion erteilt, was es heißt, Fußball zu spielen", sagte Roura, der erneut den kranken Tito Vilanova vertrat. Messi profitierte auch von einer etwas zurückgezogenen Position, während David Villa die vorderste Sturmspitze gab.

"Wir hatten eine klare Idee, wie wir spielen mussten", sagte Roura. "Wir wollten den Platz auf einer Seite mehr öffnen als auf der anderen. Wir haben unseren Stürmer vorne im Zentrum fest gemacht, so konnten wir verhindern, dass Milans Verteidiger nach vorne gingen." Da war sie wieder, die Kraft zur Erneuerung.

Ein paar Fragen bleiben

Dass Fußball aber nur zu einem gewissen Teil planbar ist und sich auch durch die Anwesenheit des Gegners unnötig verkompliziert, ist schon länger bekannt. Und so drängen sich auch nach dieser berauschenden Nacht in Barcelona einige Fragen auf: Was wäre passiert, wenn M'Baye Niang einen Konter nach einem katastrophalen Fehler von Javier Mascherano zum 1:1 abgeschlossen und nicht den Pfosten getroffen hätte, Sekunden bevor Messi das 2:0 machte? Oder was wäre passiert, wenn der Linienrichter vor Messis zweitem Tor die Fahne gehoben hätte, weil der Torschütze vermutlich knapp im Abseits stand?

Es sind Nuancen, die Duelle auf diesem Niveau entscheiden, und am Ende auch über die endgültige Deutung des Spiels und einer Mannschaft insgesamt. Allegri und Milan werden sich mit dem Furor von Präsident Silvio Berlusconi herumschlagen müssen, obwohl das Spiel bis zur letzten Sekunde offen war, ein Tor hätte schließlich gereicht, ehe Barca mit der letzten Aktion das 4:0 machte.

Barca wird weltweit für seine Spieler und seinen Stil gefeiert werden. Eine Art Fußball, die vor wenigen Tagen noch als ermüdend und entschlüsselt beanstandet wurde. Jetzt sind sie wieder der Top-Favorit auf den Titel. Wer die Champions League gewinnen will, muss an Barca vorbei. Seit gestern weiß man: Ein Vorsprung kann im Camp Nou nicht groß genug sein - auch oder vor allem nicht gegen diese Generation.

FC Barcelona - AC Milan: Daten zum Spiel