Für den Moment des Genies

Von Aufgezeichnet von Stefan Rommel und Oliver Wittenburg
Wembley macht sich schick fürs Champions-League-Finale zwischen Barcelona und ManUnited
© Getty
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SPOX: Raphael, Du hast in Deiner Kolumne bei SPOX vor geraumer Zeit Zweifel daran geäußert, dass Ferguson die Erneuerung gelingen würde.

Honigstein: Ich muss zugeben, ich habe ihn unterschätzt. Mal wieder. Es war schwer, die Stärke der Mannschaft richtig einzuschätzen, weil die Premier League in dieser Saison nicht ganz so stark war. Aber jetzt nach den Spielen gegen Chelsea und Schalke - wenn das ein Maßstab war -, sieht man das Team etwas anders. Es hat schon überrascht, dass jemand wie Chicharito den großen Unterschied gemacht hat. Wenn man sich das Team ansieht, dann ist das genau das gleiche wie vor zwei Jahren. Nur: Ronaldo und Tevez sind weg und dafür sind eben Chicharito und Valencia da, von denen man aber eigentlich nichts Großes erwartet hat. Und man sieht sich die Mannschaft an, Spieler für Spieler, und kommt zu dem Schluss, dass hinter allem eben Ferguson steckt. Er schafft es, aus einer Mannschaft, die individuell vielleicht nicht so stark besetzt ist wie früher, unglaublich viel herauszuholen. Dazu kommt noch, dass fast jeder United-Spieler in dieser Saison unter seinen Möglichkeiten geblieben ist. Rooney war bis März fast gar nicht zu sehen, Giggs saß lange nur auf der Bank. Es ist sehr schwer zu sagen, wo das wahre Potenzial dieser Mannschaft liegt. Und ich habe unterschätzt, dass United auch ohne große Investitionen und Superstars auskommen kann. Der Klub hat seit Berbatow für keinen Spieler mehr als 20 Millionen Euro ausgegeben, während andere ganz anders aufrüsten. Das sieht dann aus wie Stagnation oder Rückschritt. Aber United stagniert auf so hohem Niveau, dass es für die anderen immer noch nicht reicht. Das hat mich doch überrascht.

SPOX: Der "Spiegel" hat einen mehrseitigen Artikel zum Finale unter der Headline "Der Barca Code" veröffentlicht. Interessanter als die Überschrift aber war das Kleingedruckte darüber. Da stand als Rubrik nicht Sport oder Fußball, sondern "Mathematik". Frage: Wie viel Mathe ist drin im Fußball bzw. wird ein an sich einfaches Spiel in der Theorie nicht unnötig verkompliziert?

Reng: 1992 hat Barcelona das erste Champions-League-Finale in London gewonnen. Wenn man sich daran erinnert, wie es damals war - und 19 Jahre sind ja jetzt nicht so eine lange Zeit -, dann ist es schon unglaublich, wie wichtig Systeme im Fußball geworden sind und man kann durchaus von einem mathematischen Anspruch sprechen. Wenn man überlegt, wie wichtig es ist, dass sich die Spieler ständig verschieben und dennoch zusammen spielen. Man stellt auch fest, dass der einzelne Spieler und die Einzelaktion stark an Wert verloren haben und es müssen im Prinzip alle Spieler im selben Moment den richtigen Schritt tun, um im Fußball noch Erfolg zu haben. Wir werden im Finale Messi und Rooney sehen, die zu Recht zu den weltbesten Spielern gerechnet werden. Was aber diese beiden ganz klar von den anderen Ausnahmeerscheinungen wie Robben oder Ronaldo oder Ribery unterscheidet, ist ein viel höheres Verständnis für das Zusammenspiel des Fußballs. Bester Spieler der Welt kann man heute nur noch werden, wenn man gleichzeitig individuell herausragend, aber auch ein absoluter Teamspieler ist. Es gab früher gerade in Deutschland die Grundsatzdiskussion um Führungsspieler und die Frage, ob Einzelne eine Mannschaft prägen können oder ob nicht der andere Ansatz erfolgversprechender ist, für den Lobanowski und Dynamo Kiew standen: Elf Mann bilden eine Maschine. Heute sind wir soweit und das erinnert durchaus an eine mathematische Formel: Du brauchst elf individuell fantastische Spieler 'plus' absolutes Verständnis für das Zusammenspiel 'ist gleich' die Spitzenmannschaft 'ist gleich' Barca. Die Frage ist gelöst, welcher Weg der richtige ist. Heute brauchst du beides, sonst hast du keinen Erfolg mehr. Da hat der Fußball eine neue Dimension erlangt, was das Einstudieren des Spiels betrifft. Andere Sportarten waren da früher dran. Hockey und Basketball waren schon früher viel systematischer und mathematischer. Das 4-2-3-1 ist das System dieser Zeit geworden, weil dort die meisten Möglichkeiten des Zusammenspiels gegeben sind. Ich habe mir neulich Darmstadt 98 in der Regionalliga angeschaut. Man konnte ganz klar sehen, warum die oben stehen. Sie spielen einen fantastisch systematischen Fußball. Da ist offenbar ein Trainer am Werk, der ähnlich wie im Großen Manchester und Barcelona ein fantastisches Zusammenspiel trainieren lässt. Ohne das geht es offenbar nicht mal mehr in der Regionalliga.

Honigstein: Ich glaube, Uniteds große Stärke im Vergleich zu Barcelona ist, dass es eben keinen Code und keine Formel gibt. Die Mannschaft funktioniert eigentlich ganz simpel, das 4-4-2 ist klassisch. Dabei wechselt die strategische Ausrichtung mit der Positionierung der drei Ketten und es bleibt undurchsichtig oder schwer zu fassen, was der eigentliche Spielplan ist. Ich hab United mal als stillos beschrieben, wobei das als Kompliment gemeint war.

SPOX: Und was ist dann das markanteste Charakteristikum?

Honigstein: Effizienz und Erfahrung. Gerade die Abwehrspieler strahlen eine enorme Ruhe aus. Man hat nie das Gefühl, dass United ins Schleudern geraten könnte oder, wie es ja auch guten Mannschaften passiert, für zehn Minuten den Faden verliert. Das passiert United fast nie, weil die Mannschaft ein enormes Konzentrationsniveau und eine unglaubliche Präsenz auszeichnen. Taktisch gesehen war die Mannschaft von 2009 weiter, was auch ein Grund dafür war, warum ich die Kolumne damals geschrieben habe. Ich glaube aber, dass bei Barcelona mehr Mathematik, mehr Formel, aber auch mehr Formelhaftigkeit im Spiel ist als bei United. Und das ist eine Chance. Du weißt bei United, wo die Spieler positioniert sind, im geografischen Sinne, aber du hast keinen Schimmer, was sie machen werden.

Reng: Das weißt du aber bei Barcelona auch nicht. David Villa ist vielleicht am linken Flügel verortet, aber plötzlich ist er weg und taucht wieder im Strafraum auf und dafür ist Abidal links draußen. Die Gefahr, diesen Moment der Rotation zu verpassen, ist sehr groß. Und dann kannst du dir hinterher sagen: 'Aber wir hatten den Code doch geknackt, wir hatten das doch ausgerechnet, wie die spielen werden!' Aber Barca ist ja nicht statisch. Es ist alles im Fluss und hat ein Level der Perfektion erreicht, dass der Gegner eigentlich konstant überfordert ist.

SPOX: Viele Spieler sind heute schon sehr früh sehr weit. Die sind 23 oder 25 Jahre alt, agieren aber auf dem Platz, als hätten sie schon 500 Profispiele auf dem Buckel. Wie geht das zusammen? Das war doch vor 15 oder 20 Jahren noch nicht so.

Reng: Die Trainingslehre hat sich extrem verändert. Gerade Deutschland ist dafür ein Paradebeispiel. Wenn man sich heute zum Beispiel das Jugendtraining beim FSV Mainz 05 ansieht, dann findet man nichts mehr vom Training von vor 15 oder 20 Jahren. Da sieht man nur noch kleine Spielformen, weil die Philosophie ist: Je öfter ein Spieler im Training den Ball in einer Echtsituation auf engstem Raum berührt, desto besser wird er. Trainingsumfang, aber vor allem die Trainingsqualität haben sich enorm gesteigert. Der große Vorteil von Barcelona ist, dass der Klub den anderen um 20 Jahre voraus ist, der diese Form von Ausbildung mit Johan Cruyff schon Anfang der 90er Jahre eingeführt hat. Die Spieler wurden nicht einfach nur ausgebildet, sondern gleich mit diesem taktischen Verstand gezüchtet, dem Bewusstsein, dass das Zusammenspiel alles ist. Es heißt immer, meiner Meinung nach fälschlicherweise, dass Joachim Löw auf junge Spieler setzen würde. Aber das wird sich wieder geben und wir werden auch wieder ältere Spieler erleben. Es ist nur so, dass die Anfang oder Mitte 20-Jährigen die ersten sind, die diese neue Ausbildung von klein auf genossen haben. Und die sind eben ein großes Stück besser als die älteren, weil sie besser ausgebildet sind.

SPOX: Wie geht's aus? Ihr müsst nicht tippen, könnt aber.

Honigstein: Nach meinem 3:0-Tipp für United vor zwei Jahren, kann ich's nur besser machen. Normalerweise gewinnt Barcelona, wenn sie nicht am Anfang überrannt werden sollten. Wenn alles nach Plan läuft und beide Mannschaften ihr Potenzial voll ausschöpfen, ist Barcelona immer noch eine Ecke besser.

Reng: Dem ist nichts hinzuzufügen.

FC Barcelona - Manchester United: die Bilanz

Ronald Reng (geb. 1970 in Frankfurt) ist freier Journalist und Buchautor. Unter anderem zählen "Der Traumhüter", für den er 2004 mit dem britischen Sports Book of the Year Award ausgezeichnet wurde, und die Robert-Enke-Biographie "Robert Enke - Ein allzu kurzes Leben" zu seinen Werken. Reng lebte und arbeitete fünf Jahre in London, ehe er 2001 nach Barcelona übersiedelte. Er schreibt unter anderem für die "taz", "11Freunde" oder die "Financial Times Deutschland".

 


Raphael Honigstein lebt und arbeitet seit 16 Jahren in London. Für die "Süddeutsche Zeitung" berichtet er über den englischen Fußball und ist Kolumnist für SPOX ("Premier League Inside") und die britische Tageszeitung "The Guardian". Beim früheren Premier-League-Rechteinhaber "Setanta Sports" fungierte Honigstein als Experte für den deutschen Fußball. In Deutschland wurde der 36-Jährige auch bekannt durch sein Buch "Harder, Better, Faster, Stronger - Die geheime Geschichte des englischen Fußballs". Zudem ist er als Blogger bei footbo.comtätig und auch unter twitter.com/honigstein zu finden.

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