Tradition ist kein Ohrensessel

Jupp Heynckes und Rainer Bohnhof stehen für die Erfolge vergangener Tage in Gladbach
© Getty

Borussia Mönchengladbach gewinnt nicht nur den Kampf um die direkte Champions-League-Qualifikation, sondern auch das ungleiche Duell zwischen Retorte und Tradition. Dabei hat die Borussia soviel mehr zu bieten als eine lange Geschichte und sendet damit ein Signal an die gesamte Liga.

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Wolfsburg hat Volkswagen, Leverkusen hat Bayer, Schalke hat Gazprom und Gladbach, na ja, Gladbach hat Tradition. Ein Trumpf, der in den Fanherzen des Landes, an den Stammtischen deutscher Kneipen und in der Außendarstellung des Vereins von Bedeutung ist - nicht aber auf dem Rasen, nicht in der höchsten deutschen Spielklasse, der Bundesliga.

Da geht es um Etats, um Werbeeinnahmen, um Spielergehälter, um Bilanzen, um Transfererlöse, um Politik, um Jugendarbeit, um Spielsysteme und nicht zuletzt um die Besetzung der Führungsetage. Keinesfalls aber um Tradition. Von Tradition kann man sich nichts kaufen, Tradition schießt keine Tore und gewinnt erst recht keine Spiele. Fernab von Fußballromantik genießt Tradition einen sehr geringen Wert. Das weiß der 1. FC Saarbrücken, das weiß 1860 München, das weiß der Meidericher SV, der 1. FC Nürnberg, das weiß auch der FC St. Pauli.

Tradition gegen Retorte

Dennoch fiel der Begriff der Tradition in den letzten Wochen regelmäßig, wenn es um den Kampf um die Champions-League-Plätze ging. Da war von der traditionsreichen Borussia die Rede, die sich den Retortenvereinen aus Leverkusen und Wolfsburg widersetzt wie einst ein kleines gallisches Dorf den mächtigen Römern. Von den Erfolgen der 70er war die Rede, von Weisweiler, Netzer, vom Konterspiel der Fohlen. Ein Mann, der jene Zeiten aktiv miterlebt hat, ist Rainer Bonhof, der mittlerweile das Amt des Vizepräsidenten in Mönchengladbach bekleidet.

Als solcher saß er wie gewohnt auch gegen Leverkusen auf der Tribüne, um ein für die Borussia richtungweisendes Spiel zu sehen. Und Bonhof wird sicherlich gefallen haben, was die Mannschaft an diesem Samstagnachmittag zeigte. Wie selbstverständlich ließ das Team von Lucien Favre den Anfangs-Druck der Gäste über sich ergehen, wohlwissend, dass keine Mannschaft der Welt dieses Tempo lange gehen kann, wohlwissend, dass die eigene Defensive diesem standhalten würde. Als Bayer einen Gang zurückschaltete und sich vom läuferischen Aufwand der ersten 20 Minuten erholte, ging Gladbach in die Offensive. Einzig Leno verhinderte eine Führung.

Das neue Selbstverständnis

Ein ähnliches Selbstverständnis legte die Fohlenelf auch nach dem Seitenwechsel an den Tag: 'Ihr hattet Euren Spaß, jetzt zeigen wir Euch mal, wie man das richtig macht', vermochte man dem Auftreten der Borussia zu entnehmen. Angriff über Angriff rollte auf das Tor der Gäste, die damit im Gegensatz zu den Hausherren eben nicht umgehen konnten. Dass Bayer danach auf den Ausgleich drängte? Kein Problem für Gladbach. Leverkusen lief an, fand aber keine Lücke im massierten Defensiv-Verbund und scheiterte spätestens an der Strafraumgrenze. Bis auf wenige Flanken aus dem Halbfeld, die Favre dem Gegner in seinem Spielsystem zugesteht, ließ Gladbach nichts zu.

Die Spiele gegen Bayern, Dortmund oder Wolfsburg zeigen, dass dies längst kein Einzelfall ist. Es ist unheimlich schwer, gegen diese Borussia zu Torchancen zu kommen, beziehungsweise Tore zu erzielen. Erst einmal hatte Gladbach zum selben Zeitpunkt genau so wenige Gegentore wie aktuell (1969/70). Nicht der einzige Wert, der die wahnsinnige Saison der Fohlen untermauert. 36 Punkte in den ersten 15 Partien des Jahres, das gab es bisher ebenfalls nur ein einziges Mal in der Vereinsgeschichte (1983/84), Gladbach ist mit fünf (!) Punkten Abstand das beste Rückrunden-Team. 63 Punkte nach 32 Spielen, das gelang zuletzt vor 31 Jahren (umgerechnet auf die Drei-Punkte-Wertung). Mehr waren es überhaupt nur vier Mal, zuletzt in der Meistersaison 1974/75, einer der Spielzeiten, die Teil der Gladbacher Tradition sind.

Gladbach kann nicht nur Tradition

Aber diese neue Borussia kann nicht nur Tradition. Diese Borussia verfügt, verglichen mit den Standortbedingungen, über einen hohen Etat, generiert gute Werbeeinnahmen, präsentierte erst jüngst hervorragende Bilanzen, erzielt immense Transfererlöse, verfügt über eine exzellente Jugendarbeit und kann einen der besten Trainer der Bundesliga ihr Eigen nennen.

In Mönchengladbach ruht sich niemand auf der Tradition des Vereins aus, wie Bonhof erst kürzlich sagte: "Wir können sehr zufrieden mit der gegenwärtigen Situation sein, aber wunschlos glücklich zu sein, passt nicht zu der Denkweise des gesamten Präsidiums. Es gibt immer etwas zu tun und zu verbessern, deswegen wäre es fatal, sich auf dem Ist-Zustand auszuruhen". Tradition ist kein Ohrensessel, in den man sich zurücklehnt und auf die Rückkehr vergangener Tage hofft.

Manchmal reicht auch Traore

Vielmehr schreibt der Verein ein neues Kapitel seiner Geschichte, oder zumindest ein neues erfolgreiches. Vorbei sind die Zeiten, als man gegen den Abstieg oder um den Aufstieg kämpfte. In Mönchengladbach sitzt ein kerngesunder, wirtschaftlich profitabler Profi-Verein, der in seinem "Eigentums"-Stadion in der nächsten Saison die besten Teams Europas empfangen wird. Der für die Bundesliga nicht weniger attraktiv ist als für namhafte Spieler. Der in Favre und Max Eberl, zweifelsfrei einer der besten Manager der Liga, nicht nur zwei Väter des Erfolgs hat.

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Damit einher geht das Signal, das Borussia Mönchengladbach seit vier Jahren unaufhörlich und vor allem in den letzten Monaten verstärkt entsendet: Dass man mit Nachhaltigkeit, mit Verstand, mit guten Entscheidungen, mit Basisarbeit und Kontinuität im Konzert der Großen sehr wohl mitspielen kann - und zwar nicht nur eine kleine Geige am Bühnenrand. Dass man den Verein, angefangen beim Stadionnamen, nicht unter den Scheffel des Höchstbietenden stellen muss und dass es nicht immer ein Andre Schürrle für 32 Millionen Euro sein muss, sondern manchmal auch ein ablösefreier Ibrahima Traore die Ansprüche mehr als ausreichend erfüllt. Tradition hin oder her.

Gladbach - Leverkusen: Daten zum Spiel