The Biggest Loser

Von Haruka Gruber
Kein alles überstrahlender Raul mehr, dafür soll Schalke unberechenbar sein
© Getty

In den Tagen vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison stellt SPOX alle 18 Klubs in einer Vorschau-Serie vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: FC Schalke 04.

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Nach einem Jahr der selbst auferlegten Zurückhaltung entschied sich die Führung des FC Schalke 04 zur einem Wende: Statt sich allzu devot zu geben, um die Ruhe im Verein zu wahren, wird seit diesem Sommer ein neuer, aggressiverer Ton gewählt.

"Wir müssen bereit sein, manchmal arroganter zu sein", sagt Sportvorstand Horst Heldt im SPOX-Interview.

"Es wird die große Kunst für uns sein, eine Balance zwischen Bescheidenheit und Arroganz zu finden. Wir wollen die Einstellung vorleben, dass wir aus jeder Situation das Maximale herausholen. Und wir wollen, dass dieser Gedanke auf einzelne Spieler übergeht und dass diese Spieler je nach Situation abwägen: Wann muss ich im positiven Sinne arrogant sein?"

Es ist offensichtlich: Heldt und Trainer Huub Stevens verändern ihre Rhetorik - in der Außendarstellung, aber auch gegenüber der Mannschaft. Weitere Indizien: Stevens' kritische Äußerungen gegenüber Kapitän Benedikt Höwedes und die frühe Auswechslung von Julian Draxler in einem Testspiel.

Schalke kam zum Schluss, dass ein zu viel an Harmonie irgendwann ein mehr an Leistung hinderlich ist.

Das ist neu

Schalke verordnete sich einer Radikalkur und ist personell dünn besetzt wie kein anderes Topteam.

Der unter Felix Magath auf über 40 Spieler angewachsene Kader schrumpfte im Sommer auf 26 Spieler zusammen, nachdem zuletzt Anthony Annan an Osasuna verliehen wurde. In Jose Jurado, Billy Pliatsikas und Edu verbleiben nur noch drei aussortierte Spieler.

Mit der Entschlackung und Rauls Weggang erreichte Heldt jenes Ziel, das als wichtiger eingestuft wird als der kurzfristige sportliche Erfolg: finanzielle Gesundung.

Dass im Zuge dessen mit Raul der hinter Huntelaar Wichtigste und mit Peer Kluge sowie Tim Hoogland wertvolle Rollenspieler abgegeben wurden, sei nötig gewesen, so Heldt.

Allerdings habe der Abschied von Raul etwas Gutes: "Es ist besser, wenn sich nicht alles auf einen fokussiert", sagt Heldt - ganz nach dem neuen, von sich überzeugten Selbstverständnis des Vereins.

Die Taktik

Raul ist Geschichte, was bleibt ist die eigens für ihn eingerichtete 4-2-3-1-Grundordnung, weil diese sich als ideal für Stoßstürmer Klaas-Jan Huntelaar erwiesen hat. Der Torschützenkönig kann bei Bedarf im Sturmzentrum auf Zuspiele warten oder sich zurückfallen lassen und mit seiner unterschätzten Technik und Übersicht die Angriffe mitgestalten.

Außerdem bietet sich ein Fünfer-Mittelfeld an, weil auf der Position die größte Auswahl an Spielern besteht, die je nach Ausrichtung unterschiedlich zusammengesetzt werden können.

Jefferson Farfan, Julian Draxler, Tranquillo Barnetta und Chinedu Obasi können auf den offensiven Flügeln oder zentral hinter Huntelaar auflaufen, für die Doppel-Sechs bieten sich mit dem bissigen Jermaine Jones, dem umsichtigen Roman Neustädter, dem vielseitigen Marco Höger und dem laufstarken Christoph Moritz verschiedene Spielertypen an. Eine Sonderstellung kommt Lewis Holtby zu, weil er als einziger Zwischenspieler im Kader ohne Qualitätsminderung zwischen der offensiven Dreierreihe und der Doppel-Sechs switchen kann.

Beim 5:0-Pokalsieg in Saarbrücken bot Stevens ob der Huntelaar-Sperre ein 4-4-2 in der Raute mit Ciprian Marica und Teemu Pukki als Doppelspitze auf, doch diese Formation bleibt wie ein flaches 4-4-2 eine Ausnahme.

Der Spieler im Fokus

Lewis Holtby. Könnte er zum Spieler der Saison werden? Zu Beginn seiner Profi-Karriere etwas zu flapsig im Benehmen und zu wankelmütig in den Leistungen, entwächst er langsam der fußballerischen Adoleszenz und verhält sich bei aller Gewitztheit immer mehr wie ein Mannsbild.

Wirkt nach selbst auferlegtem Privattraining in der Sommerpause so fit wie nie und ist neben Huntelaar der vielleicht einzig unumstrittene Stammspieler, sei es als offensiver Part der Doppel-Sechs oder als Raul-Nachfolger auf der Zehn.

Setzte eine starke Vorbereitung mit einem Zwei-Tore-Glanzstück beim 6:1 der deutschen gegen die argentinische U 21 fort - und sagte daraufhin im Interview: "Das Gefühl aus der U 21 nehme ich mit auf Schalke. Da haben wir auch eine geile Truppe. Das Lächeln, das ich momentan im Gesicht habe, ist nicht aufgesetzt. Das ist echt."

Das Interview

SPOX: Eines Ihrer bekanntesten Zitate lautet: "Als Mannschaft brauchst du ein Arschloch auf dem Platz." Ist das die zentrale Lehre für die deutsche Nationalmannschaft nach dem EM-Aus gegen Italien?

Jermaine Jones: Ich möchte nicht zu sehr auf den deutschen Spielern herumhacken. Sie haben bei der EM gute Leistungen gezeigt. Insgesamt hat sich die Nationalmannschaft in den letzten Jahren weiterentwickelt und spielt einen guten Ball. Aber leider hat sie im entscheidenden Moment gegen Italien geschwächelt. Vielleicht fehlt wirklich ein "Schweinehund". Man kann es als Trainer immer von zwei Seiten sehen. Auf Schalke sagt Huub Stevens, dass er einen solchen Spieler braucht. Die Bayern hingegen verfolgen offenbar einen anderen Weg.

Hier geht's zum kompletten Interview!

Die Prognose

"Schalke ist die klare Nummer drei in Deutschland", sagt "Sky"-Experte Franz Beckenbauer - und fasst damit die Zielsetzung der Schalker zusammen. Angesichts des deutlichen Vorsprungs von Dortmund und der Bayern erwartet weder Heldt noch Aufsichtsratsboss Clemens Tönnies die Meisterschaft.

Vielmehr geht es darum, die letzte Saison schwächelnde Konkurrenz um die Champions-League-Plätze auf Abstand zu halten.

Das sollte gelingen, weil die anderen Teams wegen der Neuzugänge (Mönchengladbach, Wolfsburg, Bremen) und wegen eines neuen Systems (Leverkusen) nicht eingespielt sind oder sich wie Schalke mit Transfers zurückhielten (Stuttgart, Hannover).

Dennoch beinhaltet Schalkes Weg ein Risiko: Höwedes vernahm irritiert die öffentliche Infragestellung durch Stevens, ebenso überraschend kam die Nichtberücksichtigung von Jermaine Jones in den Mannschaftsrat. Ungewöhnlich auch die Konstellation mit drei Torhütern, die allesamt den Stammplatz beanspruchen.

Schalke zeigt Kante und erzeugt von sich aus Druck auf die Spieler. Ein Versuch, um Reibung und dadurch Leistung zu erzeugen - angesichts fehlender Kadertiefe ein womöglich angemessenes Mittel. Denn: Für die zehn Stammplätze im Feld bieten sich nur 15 Kandidaten an - und das nur, wenn Obasi, Höger und Moritz hinzugerechnet werden. Schalke ist die klare Nummer drei - nicht mehr, nicht weniger.

Der Kader des FC Schalke 04 im Überblick