Überraschungsmeister ist nicht mehr

Von Jochen Tittmar
Mit dieser Mannschaft geht Borussia Dortmund in die Saison 2012/2013
© Getty

In den Tagen vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison stellt SPOX alle 18 Klubs in einer Vorschau-Serie vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: Borussia Dortmund.

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"Uns kommt das Potenzial zu den Ohren heraus", sagt BVB-Trainer Jürgen Klopp über seine Mannschaft. Das hört sich bekannt an.

In der neuen Saison wird für den Doublegewinner vieles ähnlich bleiben. Das kompromisslose Spiel gegen den Ball beispielsweise. Einige Dinge haben sich durch die Erfolge jedoch auch verändert - oder können es im Saisonverlauf noch tun.

Das ist neu

2005 die Beinahe-Insolvenz. 2008 ein Abstiegskandidat. 2012 Doublesieger. Borussia Dortmund hat in der letzten Dekade eine sehr rasante Entwicklung genommen. Seit Klopp vor vier Jahren das Traineramt übernahm, hat sich der gesamte Verein auf der Basis stets verbesserter sportlicher Platzierungen bis in den letzten Winkel weiter entwickelt - einhergehend mit einer pausenlos gestiegenen Erwartungshaltung der Öffentlichkeit.

Dass der Titel 2011 ein Jahr später verteidigt und mit dem DFB-Pokalsieg noch veredelt wurde, war keineswegs zu erwarten. Doch aufgrund der Erfolge der vergangenen zwei Jahre wird Dortmund vor der nun beginnenden Spielzeit längst nicht mehr als Überraschungsmeister wahrgenommen. Der BVB hat sich neben Branchenführer Bayern München zum nationalen Primus gemausert und muss dieser Rolle in den nächsten Jahren auch gerecht werden. Der seit Klopp organisch gewachsene Verein fungiert durch die von jugendlicher Leichtigkeit geprägte Vereinsphilosophie, aber auch aufgrund seiner bewegten Geschichte, als Antipode zum Rivalen aus Bayern.

Und so kommt es, dass sich der BVB, der im Vorjahr noch Ivan Perisic als teuersten Neueinkauf seit 2002 präsentierte, nun einen Spieler wie Marco Reus leisten kann - mit einer Ablösesumme von 17,1 Millionen Euro der drittteuerste Transfer innerhalb der Bundesliga.

Reus, letzte Saison der wohl beste Akteur im Oberhaus, soll den Abgang von Shinji Kagawa kompensieren. Auch diese Episode ist Beweis dafür, dass das Dortmunder Gebaren national mittlerweile auf einer Stufe angelangt ist, die für viele Vereine als Anschauungsunterricht für strategische Nachhaltigkeit dient. Weitsicht, Mut und sportlicher Erfolg erlaubten es der Borussia, erst einen weitestgehend unbekannten Japaner für eine sechsstellige Summe zu kaufen, ihn 24 Monate später mit einer über 40-fachen Wertsteigerung an einen Weltverein abzugeben und als Ersatz den begehrtesten Spieler Deutschlands zu verpflichten.

"Klopp hat mit uns geschimpft" - Dortmunds "Auge" Peter Krawietz im Interview

In die Jubiläumssaison der Bundesliga geht der BVB dazu mit einer unglaublichen Kaderbreite. Die perspektivischen Transfers der vielseitig einsetzbaren Leonardo Bittencourt und Mustafa Amini gleichen dem Muster des Vorjahres (Moritz Leitner, Chris Löwe) und sind ein Vorgriff auf die Zukunft. Oliver Kirch (Rechtsverteidiger) und Julian Schieber (Sturm) gewährleisten, dass auch ihre Positionen doppelt besetzt sind.

Die Taktik

Das 4-2-3-1 ist und bleibt Gesetz, ist jedoch nicht in Stein gemeißelt, so dass es durchaus Abwandlungen davon geben wird. Reus ist angehalten, aus der Zehnerposition heraus immer wieder in die Spitze zu Robert Lewandowski zu stoßen. Mit dem in die Lücke aufrückenden Offensivsechser wird so die Formation schnell zu einem 4-4-2.

An manchen Stellen der Vorbereitung schimmerte bei eigenem Ballbesitz gegen einen sehr defensiv agierenden Gegner zudem eine Anordnung mit Dreierkette durch (sehr hoch stehende Außenverteidiger, der Defensivsechser auf Höhe der auseinandergezogenen Innenverteidiger, Reus als zweite Spitze). Da die Mehrzahl der Bundesligateams dem BVB mit tief stehenden Linien begegnen werden, wird es interessant sein, wie oft Klopp situationsbedingt auf das 3-5-2 zurückgreifen wird.

SPOX-Experten-Panel: Wie verändert Marco Reus das BVB-Spiel?

Trifft Dortmund auf offensiv denkende Mannschaften, empfängt das Team den Gegner eine Stufe tiefer und auch kompakter. Das Pressing findet dann "erst" im Mittelfeld statt. So bleiben mehr Räume für schnelles Konterspiel - hierbei sei vor allem an das Pokalfinale gegen den FC Bayern erinnert.

Der Spieler im Fokus

Und schon wieder Marco Reus. Die Borussia gab mit der millionenschweren Rückholaktion des gebürtigen Dortmunders bereits zu Jahresbeginn ein eindeutiges Signal an die Liga ab. Der Wechsel zeigt einerseits, dass die Westfalen in Rekordzeit wirtschaftlich gesundet sind und sich bei Bedarf auch wieder im obersten Qualitätsregal umschauen können.

Auf der anderen Seite verdeutlicht er die veränderten Verhältnisse innerhalb der Bundesliga: Dortmunds Angebot aus sportlicher Perspektive, Förderung individueller Stärken und begeisterungsfähigem Umfeld ist derzeit besonders für junge Spieler ähnlich begehrenswert wie jenes vom FC Bayern.

Sportlich wird sich Reus an den Zahlen des Vorjahres messen lassen müssen (18 Tore, elf Assists) - und an denen, die Kagawa hinterließ. Er soll das Dortmunder Spiel ordnen und gleichsam variantenreicher machen. Reus muss jedoch wie alle anderen Neuzugänge zuerst die defensivtaktischen Abläufe verinnerlichen. An seinen Fähigkeiten im Offensivspiel bestehen keinerlei Zweifel.

Das Interview

SPOX: Dem BVB wird vorgeworfen, als Doublesieger zu sehr auf Understatement zu machen und die sportlichen Ziele klein zu reden. Können Sie diese Diskussion nachvollziehen?

Kevin Großkreutz: Ich sehe keinerlei Vorteil darin, frühzeitig großspurig zu verkünden, man wolle unbedingt die Meisterschaft verteidigen. Ich kann versprechen, dass wir in jedem Spiel alles raushauen und bis zum bitteren Ende kämpfen werden. Das zählt in Dortmund - auch, wenn wir mal wieder nur Dritter oder Vierter werden sollten.

Hier geht's zum kompletten Interview mit Kevin Großkreutz

Die Prognose

Die Vorbereitung verlief holprig. Das Team offenbarte teilweise ungewohnte Probleme bei der Balance in der Defensive und der Geschwindigkeit im Offensivvortrag. Zudem stehen die EM-Teilnehmer erst seit einem Monat im Training und müssen das Erlebte auch noch verarbeiten.

Unter Umständen könnte eine latente Gefahr darin bestehen, sich zu sehr in die Aufgabe zu verbeißen, die internationale Scharte vom Vorjahr auszuwetzen. Dem BVB droht erneut von Topf 4 aus eine Hammergruppe in der Champions League, ein europäisches Überwintern wäre unabhängig vom Wettbewerb als Erfolg zu werten.

Sollte dies gelingen und Dortmund die Mehrbelastung erstmals unter Klopp auch in die Rückrunde mitnehmen, sind viele Fragen denkbar: Wie verkraftet das Team die Intensität? Oder: Wie sinnvoll wäre in diesem Fall eine höhere Rotation der Anfangself?

Ungeachtet dessen ist Borussia Dortmund in der langen Sommerpause sportlich sicher nicht schwächer geworden.

Reus hat sich bereits gut akklimatisiert und passt hervorragend in die Mannschaft. Die Truppe ist eingespielt, das Gros des Kaders hat den Spielansatz längst verinnerlicht.

Das Saisonziel, einen Platz unter den ersten Vier, wird der Klub erreichen. Schaffen es Klopp und sein Team, in ihrer Psyche die Erfolge der Vorjahre beiseite zu schieben und sich weiterhin täglich alles abzuverlangen, ist auch die erneute Titelverteidigung denkbar.

Borussia Dortmund: Der Kader 2012/2013