Warten auf die Explosion

Von Lars Wiedemann
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© spox

Der Super-Saisonstart des FC Bayern München bekam vor der Länderspielpause einen kleinen Dämpfer. Die Handschrift von Carlo Ancelotti ist sichtbar, prägt den Rekordmeister aber noch nicht. Zeit für ein erstes Fazit.

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"Ancelotti befreit von Peps Fesseln", jubelte die Bild-Zeitung nach dem 6:0-Auftaktsieg in der Bundesliga über Werder Bremen. Nur wenige Wochen später ist die Stimmung an der Säbener Straße aber wieder etwas verhaltener. Mit einem 0:1 bei Atletico Madrid und einer gefühlten Heimniederlage gegen den 1. FC Köln (1:1) ging der FC Bayern in die Länderspielpause. Schon tauchen die ersten Kritiker auf - pünktlich nach knapp 100 Tagen Amtszeit des Italieners.

Ancelotti nimmt nicht jeden Gegner in einer nächtlichen Videoanalyse auseinander und setzt, was die taktische Ausrichtung betrifft, auf Kontinuität. In allen zehn Pflichtspielen starteten seine Spieler in einer 4-3-3-Grundausrichtung. Unvorstellbar für Pep Guardiola. Während der Katalane ständig einen neuen taktischen Kniff im Kopf hat und diesen auch während des Spiels mitteilt, beobachtet Ancelotti das Geschehen meist mit stoischer Ruhe. Daran müssen sich auch die Spieler nach drei Jahren Pep gewöhnen.

Gemeinsam mit Opta hat SPOX den FC Bayern unter seinem neuen Trainer unter die Lupe genommen. Was macht Ancelotti anders und in welchen Daten spiegelt sich das wider? Der Fußball hat sich nicht grundlegend geändert. Dennoch fällt auf, dass die Bayern-Fans nach dem 6:0 gegen erschreckend wehrlose Bremer nur noch beim 3:0 gegen Hertha BSC verwöhnt wurden.

Ancelottis Bayern weniger unterwegs

Der italienische Mister lässt die Bayern-Profis nicht mehr 90 Minuten Pressing spielen. "Das geht einfach von der Kraft nicht", äußerte sich Joshua Kimmich, einer der Gewinner unter Trainer Ancelotti. "Es gibt nun Phasen, in denen wir abwarten, nach vorne haben wir dadurch mehr Räume." Doch hat der FCB wirklich weniger Ballbesitz? Misst man diesen nach Zeit, ist der Unterschied zu vernachlässigen: Mit 66,2 Prozent ist Bayern immer noch der Bundesligist mit dem meisten Ballbesitz, in der Vorsaison lag dieser Wert bei 67,1 Prozent. Interessant wird es erst, wenn man zum Vergleich Borussia Dortmund hinzu nimmt. Bei den Borussen ist der Anteil von 61,1 Prozent auf aktuell 65,4 Prozent rapide gestiegen.

Dass der Rekordmeister in jedem Ligaspiel weniger lief als der Gegner, ist nicht ungewöhnlich. Die Bayern lassen mit ihrem hohen Ballbesitz stets den Gegner laufen. Die zurückgelegten Kilometer sind im Vergleich mit der Vorsaison jedoch auffällig. Rund 110 Kilometer spulen die Bayern in dieser Saison ab und liegen damit im unteren Liga-Mittelfeld, 2015/16 waren es im Schnitt knapp drei Kilometer mehr.

Und auch die Sprints pro Spiel sind weniger geworden: 188 sind es aktuell, in der Vorsaison waren es 199. Das fällt auch den Beteiligten auf. Manuel Neuer sagte nach dem enttäuschenden Remis gegen Köln etwa: "Man darf sich nicht zu sicher sein, dass man einfach mal so Deutscher Meister wird, wenn man nur 95 Prozent gibt." Ein deutlicher Hinweis an die aktuell fehlende Mentalität im Team.

Und vielleicht auch ein Hinweis an seine Vorderleute, die zu viele klare Torchancen zulassen. Die untere Grafik zeigt zwar, dass Bayerns Defensive 2016/17 weniger Schüsse zulässt, dafür ist aber allzu oft Neuers Weltklasse gefragt. Sieben Großchancen hatten Bayerns Gegner bereits in dieser Saison, in der Vorsaison war man davon weit entfernt (23 in 34 Partien). "Für mich fehlt es vor allem an der Balance", monierte Neuer.

Datenvergleich: Carlo Ancelotti vs. Pep Guardiola beim FCB

Im Frühjahr bei 100 Prozent?

Fakt ist: Der FC Bayern läuft derzeit seiner Topform hinterher - und das vergleichweise früh in der Saison. Die Spieler finden aktuell zu wenige Lösungen gegen Mannschaften, die verteidigen können. Das liegt aber sicher nicht nur am neuen Trainer oder der Laufleistung. Ein Robert Lewandowski befindet sich nach einem überragenden Saisonstart aktuell in einer Mini-Krise, was das Toreschießen betrifft. An den ersten drei Spieltagen gelangen dem Polen fünf Tore und ein Assist, an den vergangenen drei Spieltagen war Lewandowski an keinem Treffer mehr beteiligt und hatte nicht mal halb so viele Abschlüsse (neun) wie zuvor (22).

Offensichtlich benötigt der Pole nach einer für ihn erfreulich langen Europameisterschaft eine Pause, die ihm aber bisher noch nicht gegönnt wird. Er ist der einzige Bayern-Feldspieler, der alle 900 Pflichtspiel-Minuten dieser Saison auf dem Feld stand.

Die zum Teil bescheidenen Leistungen in den ersten 100 Tagen Amtszeit von Ancelotti sollten also nicht zu hoch gehängt werden. Der FC Bayern ist weiterhin Tabellenführer der Bundesliga und hat in der Champions League ein Gruppenspiel verloren - nicht das Halbfinale, wie noch im April dieses Jahres. Unter Pep Guardiola klagte die Presse über die fehlende Frische in den entscheidenden Wochen. Das weiß auch Ancelotti und vielleicht ist es der Plan des dreimaligen Champions-League-Siegers, im Herbst Kraft zu sparen, um im Frühjahr bei 100 Prozent zu sein.

Sorgenkinder unter Ancelotti wieder top

Bei Laune halten dürfte er den Kader zumindest. Das Zwischenmenschliche ist die große Stärke von Ancelotti. So hat er einigen Spielern dazu verholfen, sich auf dem Platz wieder wohler zu fühlen. Franck Ribery, unter Guardiola selten in Bestform, genießt seine Freiheiten und legte bereits sieben Treffer auf. Zum Vergleich: In den vergangenen beiden Spielzeiten waren es lediglich zehn Torvorlagen in 45 Pflichtspielen.

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Thiago Alcantara ist der neue Ballverteiler im System Ancelotti. Nicht Xabi Alonso ist der Bayern-Akteur mit den meisten Ballaktionen (584), sondern Thiago (814 - bei nur 40 Minuten mehr Spielzeit), der als zweiter Spielmacher vor Alonso agiert. Nicht zu vergessen: Joshua Kimmich glänzt neuerdings als Torjäger (fünf Treffer), nachdem Ancelotti den Nationalspieler zu mehr Offensivdrang ermutigt hatte.

"Ancelotti bringt selbst die besten Spieler weiter", sagte einst Cristiano Ronaldo über den Trainer, mit dem er 2014 die Königsklasse gewann. Darauf sollten die Bayern-Fans vertrauen. Dennoch muss jeder Bayern-Spieler nach der Länderspielpause wieder an seine Leistungsgrenze gehen, sonst dürfte es bald vorbei sein mit Ancelottis 'Quiet Leadership'.

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