Ex-BVB-Physiotherapeut Kuhnt im Interview: "Mit Tuchel hat es total Spaß gemacht"

Peter Kuhnt nach seinem letzten Bundesligaspiel mit dem BVB
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SPOX: Wie lief die Zusammenarbeit mit Tuchels Trainerteam?

Kuhnt: Toll, es hat total Spaß gemacht. Ich habe selten einen Trainer erlebt, der so akribisch denkt und auch mit einem solchen Zeitaufwand arbeitet. Die haben sich unglaublich viele Gedanken über Trainingsbelastung gemacht und ständig nachgefragt. Wir saßen auch häufig zusammen und haben uns harmonisch auf Augenhöhe ausgetauscht. Man dachte anfangs, irgendwo ist doch da der Haken, bestimmt kriegen wir bald einen auf den Deckel. (lacht) Das passierte aber nicht, sondern wir haben auf hohem wissenschaftlichem Niveau zusammengearbeitet.

SPOX: Sie sind mittlerweile in die Heimat Ihrer Frau in der Nähe von Sinsheim gezogen. Ab wann haben Sie sich mit Ihrem Karriereende beschäftigt?

Kuhnt: Wir haben uns diesen Schritt schon länger überlegt. Mein Ziel war, bis 55 zu arbeiten, da dann mein kleiner Sohn in die 5. Klasse kommt. Das war jetzt der Fall. Hinzu kam ein gesundheitlicher Tiefpunkt, der mir bei der Entscheidung geholfen hat. Im Februar 2017 war schließlich der Haken dran.

SPOX: Wie sehr freuen Sie sich darüber, keinen durchtakteten Alltag mehr zu haben?

Kuhnt: Im Moment genieße ich das unglaublich und ich bin langsam dabei, immer mehr herunter zu kommen. Hier habe ich meine Ruhe. Ich schaue mit meinem Schwiegervater ab und zu die Spiele des BVB. Er neckt mich dann immer, ob ich das Erlebnis an sich nicht vermissen würde. Ich habe dabei aber keine Schmerzen, weil ich alles erlebt habe. Ich habe auch schon 20 Minuten vor Abpfiff den Fernseher ausgemacht, weil es mich nicht mehr interessiert hat. Manchmal telefoniere ich noch mit meinen Kollegen und frage nach, wie es den Jungs geht.

SPOX: Wie sehr ist das Landleben nun ein Kontrast zu der Zeit in Dortmund?

Kuhnt: Dortmund war für mich immer Arbeit. Ich konnte dort als Nicht-Dortmunder nicht abschalten und mich erholen, weil ich ständig mit dem Arbeitgeber konfrontiert war. Hier fahre ich von der Autobahn runter und merke bereits, wie mir die Ruhe guttut. Ich habe in unmittelbarer Umgebung einen kleinen See und zwei Golfplätze, ich kann mich auf mein Fahrrad setzen oder eine Runde joggen gehen. Ich brauche keine Stadt mehr.

SPOX: Hat der Verein versucht, Sie noch umzustimmen?

Kuhnt: Ich habe eines Tages Michael Zorc mitgeteilt, dass ich zum Ende der Saison aufhöre. Er meinte, da können wir ja nochmal drüber reden. Vor dem Spiel in Freiburg saßen wir dann gemeinsam auf der Bank. Dort habe ich ihm mitgeteilt, dass der Entschluss endgültig ist.

SPOX: Hing das ausschließlich mit dem gesundheitlichen Tiefpunkt zusammen, von dem Sie eben sprachen?

Kuhnt: Nein. Es war zu viel Unruhe in mir. Ich hatte zwei Bandscheibenvorfälle und eine einjährige Phase, in der ich nicht sitzen konnte, aber trotzdem gearbeitet habe. Gleiches Spiel, als ich mir das Handgelenk brach. Ich habe mit meinem Körper Schindluder betrieben. Dieser Tiefpunkt war ein Tumor im Auge, durch den ich mich gezwungen habe, fünf Wochen auszufallen. Auch da hätte ich viel länger zu Hause bleiben können, aber das ist halt nicht meine Art.

SPOX: Nach Ihrem letzten Heimspiel im Signal Iduna Park hat Sie die Mannschaft im Stadion hochleben lassen. Wie emotional war dieser Tag für Sie?

Kuhnt: Ich wollte das ja alles nicht. Ich habe auch zu Michael Zorc gesagt, dass ich leise gehen möchte, aber er meinte nur: Nix, du wirst verabschiedet, fertig. Ich bin ja schon vor dem Spiel verabschiedet worden, wie es sonst nur bei den Spielern gemacht wird. Da musste ich brutal beißen, weil das so emotional war. Nach dem Spiel hieß es, ich solle nochmal herauskommen. Ich wollte nicht, aber man hat mich überredet. Da haben sie mich vor der Südtribüne nochmal gefeiert. Da ist mir erstmals richtig bewusstgeworden, was ich eigentlich für einen Stellenwert hatte.

SPOX: Sie haben im DFB-Pokalfinale, Ihrer letzten Partie, zur Halbzeit eine Ansprache an die Mannschaft gehalten. War das angesichts des knappen Spielstands von 1:1 eine spontane Sache?

Kuhnt: Ja. Mir schien die Mannschaft aufgrund der Verletzungen von Marco Reus und Marcel Schmelzer in der Halbzeit etwas geknickt. Ich dachte: Mensch Peter, das ist dein letztes Spiel, jetzt mach' einfach mal deinen Mund auf. (lacht) Ich weiß nicht mehr, was ich genau gesagt habe. Es war einfach motivierend. Für einige kam das sicherlich völlig unerwartet.

SPOX: Das klingt auch ein wenig so, wie wenn Sie als Person ganz anders gesehen worden sind, als Sie sich selbst sahen.

Kuhnt: Das hat mir meine Frau auch schon immer erzählt. Ich bin eben ein ruhiger, besonnener Typ, der nicht viel spricht. Die Mannschaft hat mir auch ein Video geschenkt mit Bildern von früher und Danksagungen aktueller sowie ehemaliger Spieler. Das ist übrigens unser Heul-Video, wenn ich mir das mit meiner Frau anschaue. (lacht) Dadurch ist mir das aber auch noch einmal selbst bewusstgeworden. Im Nachhinein tut es mir auch ein bisschen weh, dass ich vielleicht manchmal etwas angeeckt bin, obwohl es eigentlich gar nicht so gemeint war. Ein Spieler meinte zum Beispiel mal, er wäre doch noch gar nicht so weit, um sich von mir behandeln zu lassen. Und ich dachte immer: Warum kommt denn der nicht zu mir, hat der was gegen mich?

SPOX: Michael Zorc sagte einmal, Sie seien bei den Spielen einer der emotionalsten Typen auf der Bank gewesen.

Kuhnt: Das stimmt. Ich war ein HB-Männchen und bin jedes Mal total aus dem Sattel gegangen. Ich stand eigentlich immer vor allen anderen auf und habe herumgebrüllt. Einmal bekam ich sogar eine Rote Karte.

SPOX: Wie bitte?

Kuhnt: Das war ein Spiel 1998 in Wolfsburg. Stephane Chapuisat wurde an der Außenlinie gefoult. Schiedsrichter Georg Dardenne hat nicht gleich gepfiffen, also habe ich mir den Linienrichter gepackt. Dardenne zeigte mir daraufhin Rot, ich musste sogar das Stadion verlassen. Es gab auch eine Geldstrafe, die glücklicherweise der Verein übernahm. An dem Tag war ich so fertig, weil ich dachte, dass ich jetzt meine Koffer packen muss. Seitdem bin ich bedeutend ruhiger geworden.

SPOX: Hatten Sie Momente, in denen Sie frühzeitig Schluss machen wollten oder auch Angebote anderer Klubs?

Kuhnt: Ich wollte sicherlich mal alles hinschmeißen, aber das war nicht so tiefgründig, dass ich mich jetzt noch daran erinnern könnte. Angebote dagegen gab es schon. Ich hatte kurzen Kontakt zum FC Bayern und Werder Bremen, beim VfB Stuttgart hatte ich schon einen unterschriftsreifen Vertrag vorliegen. Das hätte uns angesichts meiner familiären Pläne gut in die Karten gespielt, aber damals hat mich der BVB nicht gehen lassen. Auch bei Red Bull Salzburg waren wir kurz vor einer Einigung, weil mich das total fasziniert hatte.

SPOX: Zum Schluss noch ein Blick auf die wohl schwierigste Episode in diesen 23 Jahren BVB: Der Anschlag auf den Mannschaftsbus im April 2017. Wie haben Sie ihn erlebt?

Kuhnt: Das kam aus dem Nichts. Ich saß genau in der Mitte des Busses und habe einen Knall gehört. Auf einmal tat es einen Schlag und es kam die zweite Explosion. Ich sah einen Feuerball und da hatte auch schon Marc Bartra aufgeschrien. Er lag vier, fünf Meter hinter mir auf dem Boden, der Bus schaukelte hin und her. Ich rief unserem Busfahrer sofort zu: Fahr weiter, fahr weiter. Einigen war gar nicht bewusst, was passiert ist. Ich habe das aber direkt registriert.

SPOX: Wie reagierten Sie in den Minuten danach?

Kuhnt: Wir haben erst einmal den Marc versorgt und ihm Verbände angelegt. Es war eine lähmende Atmosphäre, denn man dachte ja, es wäre das letzte Tabu, dass im Sport so etwas passiert. Wir glaubten, es sei ein ISIS-Anschlag. Dann wären wir aber wohl nicht mehr dagewesen. Wir standen ewig herum, bis wir nach Hause konnten. Meine Frau war nicht da, ich war anfangs allein, bis mein großer Sohn noch kam. Die ganze Nacht stand die Polizei vor der Tür. Dieses Gefühl, sich am nächsten Tag in den Bus zu setzen und vom Trainingsgelände durch ganz Dortmund zu fahren, das war Wahnsinn. Ich bin lange danach extrem ungern in den Bus gestiegen. Ich habe auch heute noch Probleme mit Massenveranstaltungen, Flughäfen oder Bahnhöfen. Wenn man erlebt, wie schnell das geht - da hast du keine Chance, man kann sich in keiner Weise davor schützen. Im Nachhinein hatten wir einfach riesiges Glück.