Master of Puppets

Heribert Bruchhagen wird die Zügel beim HSV am kommenden Mittwoch übernehmen
© getty

Aus dem Ruhestand in die abstruse Welt des Hamburger SV: Heribert Bruchhagen soll der Mann sein, der den hanseatischen Surrealismus bändigt. Eine Liaison, die funktionieren kann.

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Jede Liga hat ihren Klassenclown. Diesen einen Klub, über den man immer herrlich witzeln kann und darf, egal, wie bescheiden es um den eigenen Herzensverein steht. Sogar - oder vielleicht vor allem -, wenn beide, also Klassenclown und Herzensverein, unter demselben Logo geführt werden.

In Liga zwei ist das zum Beispiel der TSV 1860 München, dessen wild gewordener Investor und Vorsitzender Hasan Ismaik seinen "Löwenverein" mit heißblütig-überdrehtem Aktionismus und beinahe trumpesquem Verhalten in den Sozialen Medien zum Gespött, nicht nur der Liga, gemacht hat. Das Äquivalent eine Etage höher: Der Hamburger Sport-Verein e.V. von 1887.

Die Unabsteigbarkeit des Dinos, ungeachtet der fußballerischen Themaverfehlungen, ist längst genauso Teil des Running Gags wie der waghalsige Traum von Europa, der exorbitante Trainerverschleiß, die Transferpolitik, die Abhängigkeit von Investor Klaus-Michael Kühne und vieles, vieles mehr, kurz gesagt: Der HSV ist das klubgewordene Chaos.

Da passte es also am Sonntagabend nur zu gut ins Bild, dass Reiner Calmund - nebst seiner Tätigkeit als Legende auch sportlicher Berater eben jenes Investors Kühne - bei Sky90 fröhlich drauflosplapperte und ohne Rücksicht auf Verluste all das verriet, was man beim HSV erst zu Winterpause öffentlich machen wollte: Didi Beiersdorfer ist der Macht enthoben worden, das Ganze schon vor dem Darmstadt-Spiel, aus der "obersten Reihe des HSV" habe er diese Information bekommen, Didi habe es ihm bestätigt. Per Telefon.

Bruchhagen braucht den Fußball zum Leben

Mit der Inthronisierung von Heribert Bruchhagen als Beiersdorfers Nachfolger könnte der HSV jetzt einen großen Schritt weg vom Dasein als wandelnde Pointe gemacht haben. Und die sarkastischen Stimmen, die mancherorts zu vernehmen waren, der HSV habe einen Rentner aus dem Ruhestand holen müssen, könnten schon bald verhallt sein. Denn: Bruchhagen und die Rothosen, das ist eine Liaison, die funktionieren kann.

Doch warum tut sich Bruchhagen diese Aufgabe überhaupt an? Er, der sein Karriereende so minutiös geplant und moderiert, dem ein ruhiges Leben im Heimatdorf Harsewinkel gewunken hatte? Der mit 68 Jahren mit Abstand der älteste aller gehandelten Kandidaten war und sich sicher nicht mehr profilieren muss auf der heimischen Fußballbühne?

Sein Engagement bei Sky, in das er kurz nach dem Schlussstrich drängte - es war wohl der erste Hinweis: Bruchhagen kann noch nicht loslassen. Bruchhagen braucht den Fußball zum Leben. Auch mit 68.

"Man darf sich nicht vorstellen, dass ich jetzt auf den Tod warte und nur noch auf dem Sofa sitze", sagte Bruchhagen einmal über die vermeintliche Zeit nach dem Fußball. Aber vielleicht hat es sich in Harsewinkel doch ein bisschen zu sehr danach angefühlt. "Es muss halt irgendwann Schluss sein", waren seine Worte vor ziemlich genau einem Jahr. "Wenn der HSV anfragt, ist eine Zusage Pflicht", sagt er jetzt.

Zumal diese Aussage nicht wirklich stimmt. Sammelt man die Zeitungsberichte der letzten Woche, braucht es schon zwei Hände, um die Absagen an den HSV, um all die Matthias Sammers und Nico-Jan Hoogmas, abzählen zu können. 2014 war es übrigens ein gewisser Heribert Bruchhagen, der noch vor der Ära Beiersdorfer eine Einladung zu Gesprächen zugestellt bekam: "Ich habe es sofort abgelehnt!"

Gezwungene Ehe mit Erfolgsaussicht

Doch es ist Vorsicht geboten bei der Betrachtung des großen Ganzen. Der sich langweilende Ex-Manager, der verzweifelt wieder einen wichtigen Posten in der Liga will, und der hemmungslose Klub, dem ob des Verschleiß von Führungskräften alle anderen Alternativen ausgegangen sind: Bruchhagen und der Hamburger Sport-Verein, das mag sich im ersten Augenblick wie eine gezwungene Ehe ansehen, doch haben sich irgendwie die perfekten Partner gefunden.

Denn der Typus Bruchhagen ist genau das, was der Traditionsverein brandeilig braucht. Einen in das Chaos geschmissenen Gegenpol, der den Klub durch seine Managertätigkeit zwischen 1992 und 1995 kennt und für den seine Anstellung viel, viel mehr als nur eine Anstellung ist.

Jemand, der in seinen 13 Jahren bei der Frankfurter Eintracht genau einen Trainer entlassen hat, der als unbekehrbarer Realist verschrien ist und genau deswegen den hanseatischen Wahnsinn zu entschleunigen vermag. Dessen Handeln in Krisensituationen und die immer wieder vorgeworfene Visionslosigkeit sich gerade für die Hamburger, die sich ihren sportlichen Sturzflug seit nunmehr dreieinhalb Jahren mit allem Möglichem schönreden, als gesündeste Attribute entpuppen könnten. Das alles - natürlich - zusätzlich zu Bruchhagens Kenntnissen von Geschäft und Sport.

Denn wenn Bruchhagen am Mittwoch seinen Dienst an der Elbe antritt, wartet nicht nur wegen der generellen Situation im Klub eine Herkulesaufgabe. Sport, Kommunikation und Vertretung in der Liga heißen die Bereiche, für die der 68-Jährige sich bei den Rothosen von nun an zu verantworten hat. Viele Strippen, die Bruchhagen ziehen muss, viele Leute, die er richtig tanzen lassen muss, um den schwerfälligen Koloss wieder in eine Ausgangslage zu manövrieren, von der aus von etwas anderem als dem Klassenerhalt geträumt werden darf.

Das Dilemma um Investor Kühne

Einen Sportdirektor an die Elbe zu lotsen, und das so schnell wie möglich, wird die erste Aufgabe sein. Eine, die eminent sein wird für die Zukunft des Vereins, so soll sich das Gespann Bruchhagen, Gisdol plus der neue sportliche Leiter um das Team der Zukunft kümmern. "Ich weiß um die sportliche Situation beim HSV und kann diese einschätzen", sagt Bruchhagen über die aktuelle Lage: Es geht nur darum, den Abstieg zu vermeiden.

All diese wichtigen Entscheidungen, die gleich am Anfang seiner Amtszeit auf Bruchhagen zukommen, müssen dann inmitten der nicht gerade als zurückhaltend bekannten lokalen Medienszene mit dem Klassenclown-Image als zusätzlichem Rucksack kommuniziert werden. Es stellt sich ohnehin die Frage, wie Bruchhagen in einem Umfeld reagiert, das wieder so anders ist als jenes, das er über ein Jahrzehnt in Frankfurt gewohnt war. Wo er es war, der dem Klub erst wieder überregionale Relevanz verliehen hat.

Und schließlich ist da mit Investor Kühne ja noch jemand, an dessen Tropf der HSV seit Jahren hängt - was sich mit Bruchhagens Vorstellungen nur schwer in Einklang bringen lässt. Schon während seiner Zeit bei der SGE meinte Letzterer relativ deutlich: "Grundsätzlich ist gegen einen Investoren wie Kühne ja nichts zu sagen, solange er keine Absichten hegt, auf die Vereinspolitik Einfluss zu nehmen."

Doch genau das macht der Milliardär. Das aktuell bestehende Verhältnis des finanziell ausgemergelten Klubs zu seinem Geldgeber ist nämlich kein blindes Budget, sondern ein Finanzierungsmodell mit Macht für den Investoren: Kühne selbst schlägt zwar keine Spieler vor, aber, so Beiersdorfer einmal, würde Kühne "letztlich entscheiden, ob er das Paket für einen Spieler frei gibt".

Und egal, ob das angebliche Treffen der beiden auf Mallorca stattgefunden hat oder nicht: Dass der so erfahrene Bruchhagen eine derartige Entscheidungsinstanz über ihm, die wahllos den Daumen heben oder senken kann, akzeptiert, darf doch sehr bezweifelt werden.

Der Hamburger SV in der Übersicht