Es geht nur noch extrem

Von Benedikt Treuer
Streichs Freiburger rutschten vor dem Abstiegsduell gegen den HSV auf den Relegationsplatz ab
© getty

Der SC Freiburg klammert sich vor dem Auswärtsspiel in Hamburg (20.30 Uhr im LIVE-TICKER) an seinem letzten Strohhalm in der Bundesliga. Es scheint, als könne das Team von Christian Streich sein größtes Ass nicht ausspielen - weil man sich selbst im Weg steht. Der Trainer hat ungewollt eine Extremsituation geschaffen.

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Immer wieder wischte sich Christian Streich über das Gesicht, die Augen zusammengekniffen. Besonders euphorisch scheint der Freiburger Coach bei Pressegesprächen ohnehin selten zu sein - auf der PK vor dem Hamburg-Spiel aber ganz besonders nicht.

Nach nur zwei Punkten aus den letzten vier Spielen steht der SC auf Relegationsplatz 16, Tendenz fallend. Hinzu kommt: Die Zähler der letzten drei Partien verschenkte man mit Mainz, Stuttgart und Paderborn allesamt an Konkurrenten im Abstiegskampf. Freiburg hätte schon sicher durch sein können. So jedoch bangt man mehr denn je in dieser Saison um den Klassenerhalt.

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"Wir müssen uns von allen möglichen Szenarien freimachen und nach Hamburg fahren, um bestmöglich 95 Minuten lang das auf den Platz zu bringen, was wir zuletzt gut gemacht haben", gab Streich am Donnerstag die vermeintlich einfache Marschroute vor. Jedoch war ihm anzumerken, dass auch er wohl noch seine Zweifel an der Umsetzbarkeit dieses Vorhabens hat.

Das Ass ist nicht ausspielbar

Dabei bringt Freiburg wie kein anderes Team die große Erfahrung und das Wissen mit, wie man im Abstiegskampf besteht. "Der Anspruch ist gestiegen. Du hast es jahrelang geschafft. Auch in dieser Saison fehlte noch so wenig, um völlig auf der sicheren Seite zu sein, aber das haben wir nicht geschafft."

Dass der SC es ausgerechnet in den so wichtigen Spielen gegen Stuttgart und Paderborn nicht schaffte, dieses Ass auszuspielen, ist bedenklich. Der Vorteil, Tugenden und den Druck im Abstiegskampf zu kennen und bereits erfolgreich bestanden zu haben, ist aktuell keiner.

Nicht einmal die eigenen Fans im Rücken geben dem Team die nötige Sicherheit: "Wir waren faktisch nicht in der Lage, Heimspiele zu gewinnen - deswegen stehen wir jetzt da, wo wir stehen", haderte Streich mit den letzten Wochen.

Der Wahrheit ins Auge blicken

Nur ungern und mit großem Widerwillen blickt Freiburgs Coach zurück: "Ich will die Saison zu diesem Zeitpunkt nicht Revue passieren lassen. Wenn ich mir die gesamte Spielzeit anschauen würde, was soll ich da noch sagen?", offenbart er deutlich seine Ratlosigkeit.

Dem vielleicht außergewöhnlichsten Trainer der Bundesliga tut es weh, feststellen zu müssen, dass die Überlegungen und Maßnahmen der letzten Monate nie die so sehr erhoffte Konstanz ins SC-Spiel brachten.

Stattdessen schwankte das Team zwischen Leistungshochs und Formtiefs. "Wir müssen uns von den Dingen freimachen, die uns zuletzt geschmerzt haben", lautet Streichs Parole vor dem HSV-Spiel. Wo aber will er bei den zahlreichen Baustellen anfangen?

Zur Verwirrung rotiert

Ob Durchschlagskraft im Spiel nach vorne oder Stabilität in der Defensive: Etwas fehlte seiner Mannschaft in dieser Saison fast immer. Eine Formation, die nach Streichs Empfinden harmoniert, hat der Trainer noch nicht gefunden, weshalb er immer wieder auf vielen Positionen umstellte - Woche für Woche.

Spieler wie Guede oder Mitrovic kamen von der Tribüne für einige Spiele in die erste Elf - nur, um dann wieder auf der Tribüne oder der Bank Platz nehmen zu müssen. Höfler spielte erst auf der Sechs, dann sogar als Innenverteidiger, Mehmedi mal links außen, dann wieder ganz vorne und vice versa. Streich scheint die Truppe mit seiner übermäßigen Rotation in erster Linie verwirrt zu haben.

Entsprechend unzufrieden war er deshalb zuletzt mit sich selbst: "Ich bin maßlos enttäuscht. Wir haben furchtbar gespielt, dafür gibt es nur einen Verantwortlichen, nämlich mich. Kein Spieler ist verantwortlich für die erste Halbzeit. Nur ich", lautete sein Fazit nach der Partie in Stuttgart am 30. Spieltag.

Wenngleich der Trainer dieses Denken am Donnerstag noch einmal verteidigte ("Meine Aufgabe ist es, mich vor die Mannschaft zu stellen und die Spieler zu schützen - nicht mich zu schützen"), so warf das Auftreten gegen Paderborn aber zumindest die Frage auf, ob Streich das Team auf diesem Wege wirklich vollends erreicht.

Mental nicht gefestigt

Denn anstatt die Mannschaft in die Pflicht zu nehmen, sprach Streich seinen Spielern auch nach dem zuweilen kampflosen Auftritt gegen Paderborn jegliche Mitschuld ab: "Der Mannschaft ist kein Vorwurf zu machen", bilanzierte er nach der ernüchternden Heimpleite.

Anstatt dem Team durch eine deutliche Ansage Feuer zu machen, scheint es, als ginge auf diese Art jegliche Spannung verloren - ein Umstand, den auch Streich selbst nicht leugnet: "Gegen Paderborn war zu erkennen, dass eine gewisse Nervosität aufkam. Wir hatten im eigenen Ballbesitz nicht die nötige Ruhe, das Spiel in Gelassenheit weiter fortzusetzen."

Es ist offensichtlich, dass der SC sich mental zu leicht aus der Bahn werfen lässt: "Wenn du innerhalb von kurzer Zeit zwei Gegentore bekommst, ist das ein Genickschlag. Das hat auch immer mit Schockstarre zu tun", so Streich. Diese schien auch der Trainer unter der Woche noch nicht gänzlich wieder losgeworden zu sein.

Zum Willen angestachelt

Wie schnell aber alles wieder in die andere Richtung laufen könnte, hat ausgerechnet der Gegner HSV zuletzt bewiesen: "Wir haben uns den Glauben und die Hoffnung zurückgeholt", sagt Bruno Labbadia vor dem Freitagabend-Spiel stolz: "Pokal, deutsche Meisterschaft, Europa League - das ist alles Kindergeburtstag. Es gibt nichts Schlimmeres als Abstiegskampf", macht der HSV-Trainer deutlich.

Nach durchaus erfolgreichen Jahren bekommt man das auch im Breisgau wieder zu spüren - eine Umstellung, die den Beteiligten schwer fällt und die Streich zuletzt niedergeschlagen, ratlos und beinahe am Ende erscheinen ließ.

Dann platzte es am Donnerstag aber doch noch aus dem Coach heraus: "Die Gefühlslage ist doch so, dass der HSV die Kurve noch bekommen hat und wir schon so gut wie abgestiegen sind. Dabei haben sie nur einen Punkt mehr als wir", wetterte Streich, der in diesem Moment den Willen wiedergefunden zu haben schien, es allen zeigen zu wollen.

Und er verschaffte seinem Unmut weiter Luft: "Es wird immer extremer. Es geht nur noch himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt! Das ist es was zählt, was verkauft werden kann und gelesen werden will!", kritisierte er die öffentliche und mediale Wahrnehmung.

Eine selbst geschaffene Extremsituation

Dieser emotionale Ausbruch war es aber, auf den alle im Raum Anwesenden gewartet hatten. Irgendwann musste sich Freiburgs Identifikationsfigur wieder aus seiner Trägheit befreien - das geschah genau in dem Moment: "Wenn wir eine gute Leistung bringen, sind wir in der Lage, in Hamburg zu gewinnen. Davon sind wir überzeugt. Mich interessiert der HSV relativ wenig, mich interessiert unsere Mannschaft."

Und die habe alles, um bei den Hanseaten zu bestehen: "Eine Handlung von Menschen, die unter Druck stehen, ist es oft, den Frust auf andere Personen umzuleiten. Das ist bei uns nicht der Fall. Jeder kämpft mit sich, aber die Mannschaft driftet nicht auseinander. Hier sind keine Maniacs unterwegs", versicherte Streich.

Was darauf folgte, war ein Versprechen an seine Kritiker und eine forsche Kampfansage zugleich: "Wir werden in Hamburg alles geben. Wenn Sie die Wettkampfhärte trotzdem nicht sehen, fragen Sie mich bitte in der nächsten Woche noch einmal. Dann sage ich Ihnen, woran es gelegen hat", formulierte er entschlossen - nicht jedoch, ohne unfreiwillig das von ihm zuvor kritisierte Verhältnis der Extreme zu erschaffen: "Entweder wir zeigen es allen oder wir gehen in Hamburg unter - zwei Möglichkeiten."

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