"Passspiel nicht als Selbstzweck"

Frank Wormuth leitet die Trainerausbildung beim DFB und coacht die deutsche U 20
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SPOX: Sie haben es zu Beginn schon erwähnt: drei der vier Halbfinalisten waren von überragenden Individualisten in der Offensive geprägt, am Ende siegte das Team Deutschland. War das der Triumph der Mannschaft über die Individualität?

Wormuth: Die Quintessenz nicht nur dieser WM ist, dass sich die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen erhöht, wenn ein Trainer Solisten so einbauen kann, dass sie für das Team arbeiten. Und wenn nicht, dann gewinnt immer noch nicht die Mannschaft, weil der Solist für die Gegner nicht berechenbar ist. Deutschland hat es geschafft, seine Solisten in ein Mannschaftsgefüge zu bringen, die anderen drei Teams vielleicht am Ende nicht so explizit. Aber ganz ehrlich: wenn du unter den letzten Vier bist, dann gehört auch ein Schuss Glück dazu, ein Spiel zu gewinnen.

SPOX: Begeben sich Teams mit so starken Individualisten zu sehr in eine Abhängigkeit von ihren Protagonisten? Im Halbfinale neutralisierten sich Holland und Argentinien, weil Robben und Messi gut verteidigt wurden. Brasilien war ohne Neymar ein Desaster, nach dem Rückstand nervlich am Ende und unfähig zu reagieren.

Wormuth: Abhängigkeit ist richtig formuliert, aber diese Spieler können auch Spiele alleine entscheiden. Immerhin waren drei Teams mit Solisten im Halbfinale. Die Geschichte mit Brasilien und dem verletzten Neymar ist völlig anders zu bewerten. Was beim Spiel Deutschland gegen Brasilien in der ersten Hälfte passiert ist, geht in die Geschichte ein. Die Brasilianer, unabhängig vom Fehlen Neymars, waren schockiert ob der Torfolge und vor allen Dingen der Art, wie die Tore erzielt wurden. Das wäre auch mit Neymar passiert, weil dieser begnadete Fußballer nur für die Offensive zuständig war. Im Nachhinein war es vorauszusehen, dass Brasilien gegen Deutschland verlieren wird. Nicht in der Art und der Höhe, aber aufgrund der Probleme in ihrem Defensivverhalten.

Die Opta-Statistiken von Messi und Robben im Vergleich

SPOX: Wie viel Individualität verträgt eine Mannschaft?

Wormuth: Lassen Sie es mich kurz mit folgendem weisen Satz sagen: "Erfolgsfaktor für eine Mannschaft ist die individuelle Klasse eines Spielers, die stets in perfekt funktionierenden Teams mit einer klaren Spielstrategie eingebettet werden muss." Ich zahle aber keine fünf Euro ins Phrasenschwein, denn für den Satz habe ich eine gewisse Zeit gebraucht (lacht). Das beantwortet zwar nicht direkt Ihre Frage, aber zeigt auf, dass der Trainer der Schlüssel ist, den Solisten, aber auch den Rest der Mannschaft von Vor- und Nachteilen eines Einzelkönners zu überzeugen.

SPOX: Sie haben zu Beginn des Gesprächs gesagt, dass fast jede Formation bei der WM gespielt wurde - außer der Raute. Erstaunlich, dass ausgerechnet Jürgen Klopp beim BVB gerade diese Formation wieder auspackt. Welche Vor- und Nachteile hat die Raute?

Wormuth: Nehmen wir als Beispiel das Spiel um den Supercup gegen den FC Bayern: Die Münchner suchen in der Mitte Überzahl durch einrückende Spieler. Da passt die Formation mit vier Mittelfeldspielern sehr gut dazu. Der Nebeneffekt bei Beibehaltung einer Viererkette in der Abwehr ist, dass man vorne mit zwei Spitzen arbeiten kann. Gut fürs schnelle Umschaltspiel, da zwei Anspielstationen in der Tiefe auf die Pässe warten. Durch die Raute kann man auch seine Außenverteidiger gut ins Spiel bringen, weil Raum für Vorstöße vorhanden ist. Ein Nachteil ist, dass die Wege für die seitlichen Mittelfeldspieler gegen eine Spielverlagerung weiter sind, also mehr Laufaufwand betrieben werden muss, was sich am Ende im konditionellen Bereich niederschlagen könnte.

SPOX: Bei einer läuferisch starken Mannschaft wie Dortmund schien das kein Problem zu sein.

Wormuth: Bei aller Diskussion über Vor- und Nachteile einer Formation muss man beachten, dass es am Ende darum geht, welche Spielerqualitäten man auf seiner Seite hat und vor allen Dingen, wie der Gegner spielt. Deswegen reden wir ja immer von der Systemdiskussion, weil Annahmen Voraussetzungen sind, um Vor- und Nachteile aufzuzeigen. Allgemein betrachtet kann man jedes System auseinandernehmen, aber in der Realität spielen noch ganz andere Gründe eine Rolle, ob das eigene Verhalten Vor- oder Nachteile birgt. Aber am Ende geht es immer um bespielbare Räume und Überzahlverhältnisse.

SPOX: Auch die Bayern suchen gerade nach einem neuen Zugang zu diesen Themen. Pep Guardiola lässt hinten mit einer Dreierkette spielen. Zeigt das, dass Guardiola vielleicht aus der Niederlage gegen Real doch mehr Schlüsse gezogen hat, als er zugeben will?

Wormuth: Um das nochmals klarzustellen: Das Spiel der Bayern ist klasse. Pep Guardiola hat eine klare Vorstellung von seinem Spiel und die Mannschaft überträgt das hervorragend. Und der Erfolg spricht gleichzeitig dafür. Analytisch und nicht kritisch betrachtet haben die Madrilenen in der letzten Saison gegen die Bayern ihr Spiel verändert - also einen Plan B gehabt. Die Bayern haben ihre Philosophie durchgezogen und am Plan A festgehalten. Am Ende hat Madrid gewonnen. Dass die Bayern ihr System verändern können, also einen Plan B haben, steht außer Zweifel, aber man muss als Trainer Entscheidungen treffen. Das ist rein analytisch und völlig wertfrei dargestellt. Dies nur nochmals für die vielen Kritiker, die sich hinter Pseudonymen im Internet verstecken und deren Gläser immer halbleer sind. Und dass die Bayern nun mit einer Dreierkette auflaufen, ist die logische Folge des Ballbesitzspiels, um einen Mann mehr im Mittelfeld zu positionieren und vorne in der Spitze einen zweiten Zielspieler aufzustellen. Man kann sogar sechs Spieler ins Mittelfeld bringen. Dies alles offensiv betrachtet.

SPOX: Im Pokalfinale gewann Bayern durch die Dreierkette aber vor allem defensiv an Stabilität und gewährte Dortmund nicht so viele Umschaltaktionen. Ist der Zugewinn an defensiver Stabilität der Hauptaspekt, warum wieder mehr Teams auf Dreierkette zurückgreifen?

Wormuth: Ja und Nein. Die Dreierkette hat Vor- und Nachteile. Wie oben schon einmal beschrieben hängt alles davon ab, wie die eigene Qualität der Spieler ist und wie der Gegner spielt. Ein Beispiel: Spielt der Gegner mit zwei Spitzen nebeneinander, dann hätte eine Dreierkette den Vorteil der Überzahl sowohl in der Defensive als auch in der Offensive, sprich der Spieleröffnung. Das letztere könnte man aber auch kompensieren durch die dynamische Dreierkette - wie wir in der Ausbildung zu sagen pflegen. Also das "Abkippen" des Sechsers zwischen die Innenverteidiger bei einer Viererkette gegen eben zwei Spitzen. Das bedeutet aber, dass die beiden Innenverteidiger auf die Höhe der zwei gegnerischen Spitzen gehen müssen, sonst bringt der abgekippte Sechser nicht viel. Oh je, jetzt bin ich aber in den Tiefen des Fußballspiels angekommen (lacht).

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