Fußball als Droge, Fußball als Therapie

Pierre-Emile Hojbjerg stand bislang in elf Spielen für den Rekordmeister auf dem Platz
© getty

Er gilt als Ausnahmetalent, will ein Unikat sein und musste auf dem Weg zum Profi-Dasein einen schrecklichen Schicksalsschlag wegstecken. Das vergangene DFB-Pokalfinale war ein persönlicher Meilenstein - jetzt soll Pierre-Emile Hojbjerg beim FC Bayern eine tragende Rolle spielen. Auch im Supercup gegen Borussia Dortmund (Mi., 17.45 Uhr im LIVE-TICKER).

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Es waren genau 119 Tage. 119 Tage lagen zwischen dem großen Versagen und der vielleicht endgültigen Emanzipation. Es waren genau 119 Tage. Zwischen Salzburg und Berlin.

Als Coach Pep Guardiola Anfang des Jahres das Experiment Dreierkette das erste Mal in aller Öffentlichkeit wagte, wurde es zum Desaster. Freilich war es nur ein Testspiel. Doch die 0:3-Klatsche gegen die Bullen aus Salzburg schlug hohe Wellen. Mittendrin damals: Ein nach seinem Platz im System suchender Pierre-Emile Hojbjerg, der unbeholfen sang- und klanglos unterging.

119 Tage später waren 76.197 Paar Augen im Berliner Olympiastadion Zeugen, wie Guardiola die Dreierkette wiederbelebte. Ein Experiment im so wichtigen Pokal-Endspiel gegen den BVB, das diesmal genau aufging. Dortmunds Albtraum Arjen Robben, Zweikampfmaschine Javi Martinez, der unbezwingbare Jerome Boateng - und der rotzfreche Hojbjerg. Sie waren die herausragenden Akteure in der Double-Nacht.

Ein perfektes Märchen

Hinter dem, was auf den ersten Blick wie ein perfektes Fußball-Märchen aussieht, steht die Geschichte eines für sein Alter beeindruckend reifen Fußballers, der mit seinen 19 Jahren zur kommenden Spielzeit ein vollwertiges Element des bayerischen Star-Ensembles werden soll.

"Er ist Bestandteil unserer Mannschaft und nicht mehr die Nummer 19, wie vielleicht noch im letzten Jahr", stellte Sportdirektor Matthias Sammer klar. Zwar wurde der 46-Jährige auch seiner Mahner-Rolle gerecht: "Er ist 95er Jahrgang. Wir müssen den jungen Spielern die Zeit geben, die sie brauchen".

Doch ist weder Sammer, noch Trainer Guardiola oder Bayerns Nachwuchskoordinator Michael Tarnat, der Hojbjerg nach seinem Wechsel Anfang 2012 für ein Jahr bei sich zuhause aufnahm, ist das Riesen-Potenzial des jungen Dänen entgangen.

Der legitime Kroos-Erbe?

Eigentlich für die U 19 vorgesehen, trainierte Hojbjerg wenige Monate nach seinem Wechsel schon bei den Profis. Im Mai stand er beim 1:0 gegen Schweden das erste Mal für Dänemarks A-Nationalmannschaft auf dem Platz. Coach Morten Olsen traute dabei seinen Augen kaum: "Selten habe ich in meinen 14 Jahren als Nationaltrainer ein besseres Debüt erlebt als heute."

Hojbjerg hat bislang seinen Ruf als Ausnahmetalent bestätigt. Und er schreibt weiter an seinem persönlichen Fußball-Märchen. Nach dem Abgang von Toni Kroos zu Real Madrid sahen sich die Verantwortlichen beim Rekordmeister nicht gezwungen zu handeln. Nicht wenige munkeln, der Grund dafür sei Hojbjerg. Sieht Pep im jungen Dänen den legitimen Kroos-Nachfolger?

Pochen auf die eigene Identität

Der 19-Jährige selbst würde wohl schnell abwiegeln. Mit Vergleichen zu anderen Spielern kann Hojbjerg nichts anfangen. Er pocht von Anfang an auf seine eigene fußballerische Identität. "Ich denke, ich bin ein neuer Spielertyp", stellte er vor kurzem im "Kicker" klar. "Ich bin kein Schweinsteiger, kein Kroos, kein Lahm. Es ist ganz einfach: Ich bin Pierre."

"Er kann alles spielen", hat auch Guardiola an der neuen Allzweck-Waffe Gefallen gefunden. Und tatsächlich erfüllt Hojbjerg das für Pep so wichtige Kriterium der Polyvalenz exzellent. "Auf der Achter-Position ist er am besten. Ich würde ihn als Box-to-Box-Player bezeichnen", sagte sein ehemaliger Jugendkoordinator bei Brönby Kim Vilfort. Im zentralen Mittelfeld oder der rechten Verteidigerposition winken dem Youngster wohl die größten Einsatz-Chancen.

Im auf dem Papier bedeutungslosen Saisonendspurt der Bundesliga stach Hojbjerg heraus und machte nachhaltig auf sich aufmerksam. Vor Berlin adelte Pep seinen Schützling, jeder müsse das Pokalfinale "mit dem Spirit von Hojbjerg spielen".

Auch die von vielen Seiten kolportierte Taktikänderung könnte dem Youngster in die Karten spielen. In der Vorbereitung zeichnete sich bereits ab, dass die Bayern-Fans in Zukunft wohl öfters eine Dreierkette zu sehen bekommen. Dann wären vielseitige Akteure gefragt. Kreativ und gefährlich nach vorne, mit dem richtigen Näschen und der nötigen Robustheit für die Defensive. Eine Rolle, wie zugeschnitten auf Hojbjerg.

"Ich kann Tore machen. Die Offensive ist meine Stärke", beschreibt sich der mit 17 Jahren und 251 Tagen jüngste Bundesliga-Spieler des Rekordmeisters aller Zeiten selbst. "Aber ich denke auch defensiv."

"Man muss im Kopf sehr klar sein"

Doch sind es bei Hojbjerg vor allem auch außerfußballerische Komponenten, die ihm nicht nur eine große Karriere ebnen könnten, sondern ihn auch von vielen anderen ungeschliffenen Juwelen unterscheiden.

Zum Beispiel die enorme geistige Reife, die der 19-Jährige jetzt schon mitbringt. "Man muss im Kopf sehr, sehr klar sein. Die Fußballwelt von heute ist sehr extrem und fordert viel von den Spielern", weiß Hojbjerg. Druck spürt er bei Bayern deshalb aber nicht. Auch nicht nach dem Kroos-Abgang, auch nicht Angesichts größerer Aufgaben. "Es ist kein Druck, so lan­ge die Erwartungen nicht höher als meine eigenen sind. Und die sind sehr hoch."

Dabei war sich der Däne von Anfang an über die Mammut-Aufgabe an der Isar bewusst. "Das ist typisch für mich, ich woll­te immer das Schwierigste, die größte Aufgabe." An gesundem Selbstbewusstsein fehlte es Hojbjerg ebenso wenig wie an der Gabe, seine Situation realistisch einschätzen zu können. "Wenn ich dann für Bayern nicht gut genug bin, dann bin ich eben nicht gut genug. Ich weiß aber, dass ich irgendwann zu den Besten gehöre, wenn ich hart an mir arbeite. "

"Meine Droge, Medizin und Thera­pie"

Auch ist er dem FC Bayern sehr tief verbunden, nachdem der Klub im vergangenen Jahr alles unternommen hatte, um Hojbjergs Vater Christian nach dessen Magenkrebs-Erkrankung zu unterstützen.

"Ich war völlig fertig. Dann kam Uli Hoeneß. Er half mir sofort. Er kontaktierte die besten Ärzte Deutschlands", erzählt Hojbjerg über die schwere Zeit. Die Münchner sorgten dafür, dass Hojbjergs Vater bei Spezialisten in München behandelt wurde - leider vergebens. Im vergangenen April verlor er den Kampf gegen die Krankheit.

"Ich wünsche niemandem, dass er so etwas erlebt", erinnert sich Hojbjerg, der in der Zeit nicht nur gelernt habe, "was für mich im Leben wichtig ist. Natürlich mein Vater. Aber ich habe auch herausgefunden, dass Fußball mein Leben ist. Und Fußball ist meine Droge, Medizin und Thera­pie."

Hojbjerg will dem Verein auf dem Platz etwas dafür zurückgeben. "Manche Leute behaupten, Bayern sei arrogant. Aber das stimmt so nicht. Welcher Verein tut so viel für jemanden? Dafür bin ich dankbar", stellte er klar. "Ohne die Bayern, ohne die Tarnats hätte ich es nicht geschafft."

Tragende Rolle dank WM?

Doch Hojbjerg hat es gepackt und steht vor der bislang wichtigsten Saison seines Lebens. "Ich hoffe, dass mir die Zukunft bei Bayern gehört", sagt er. "Es hängt von mir ab, aber ich muss auch Geduld mitbringen."

Doch mit einem Großteil des Stammkaders, der nach der WM in Brasilien erst spät in die Vorbereitung einsteigt und nach dem Urlaub körperlich erst noch auf Spitzenniveau kommen muss, winkt Hojbjerg schon schneller eine tragende Rolle, als er vielleicht denkt.

Schließlich hat er Guardiola spätestens mit dem Pokalfinale gezeigt, dass auf ihn Verlass ist. Auch wenn Hojbjerg selbst nicht von einem Durchbruch sprechen wollte, war es zumindest "ein Zeichen, dass ich mithalten kann und etwas draufhabe, wenn es wirklich ernst wird".

119 Tage nach der Schmach von Salzburg sahen seine Teamkameraden das in der Double-Nacht ein bisschen anders. "Mit 18 Jahren so ein Finale zu spielen, verdient ein Riesenkompliment", lobte Weltstar Robben den Auftritt vor 76.197 Paar Augen im Berliner Olympiastadion. "Die ganze Mannschaft ist stolz auf ihn."

Pierre-Emile Hojbjerg im Steckbrief