Hoffnungslos war gestern

Von Stefan Rommel
Gertjan Verbeek ist seit 21. Oktober Cheftrainer beim 1. FC Nürnberg
© getty

Zwei absurde Niederlagen haben den 1. FC Nürnberg ans Ende der Tabelle gespült. Die Lage ist prekär - die Hoffnung auf Rettung dafür aber umso größer. Vor allem wegen Trainer Gertjan Verbeek und seiner akribischen Arbeit.

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Wie das alles in Zukunft laufen solle, erklärte Gertjan Verbeek seinen Zuhörern neulich im Bauch der Mercedes-Benz Arena in Stuttgart.

Der Niederländer hatte mit dem 1. FC Nürnberg bei seiner Premiere als Trainer in der Bundesliga ein ordentliches 1:1 erzielt, sah dabei aber noch jede Menge Abstimmungsprobleme bei seiner neuen Mannschaft.

Klare Parameter abgesteckt

Was Verbeek in Stuttgart von sich gab, erinnerte in Ausschnitten an die Grundparameter des Voetbal total: Der Niederländer forderte ein aggressives Angriffspressing, kurze Ballkontaktzeiten, dass seine Mannschaft das Spiel des Gegners auch - oder gerade - ohne Ball besser lenken müsse.

Die Herangehensweise an das Lieblingsspielsystem der Niederländer gestaltet sich bei Verbeek aber etwas anders. Der 51-Jährige rollt das Feld im wahrsten Sinne des Wortes von hinten auf. Das Augenmerk liegt auf der Defensivbewegung seiner Mannschaft, der sich damit automatisch verändernde Offensivcharakter ist gewissermaßen "nur" eine Folgeerscheinung.

Absturz ans Tabellenende

Der 1. FC Nürnberg spielt einen neuen Fußball. Das ist sehr schön anzuschauen, hat aber bisher einen ganz großen Haken: Der Club punktet viel zu wenig.

Dem einen Zähler von Stuttgart - noch das schwächste Spiel unter Verbeek - folgte bislang kein weiterer. Nürnberg ist nach gut einem Drittel der Saison Tabellenletzter. Erstmals seit Frühjahr 2008 steht der Club wieder ganz unten. Am Ende der Spielzeit mussten die Franken in die 2. Liga absteigen.

Die Tabelle lügt bekanntlich nicht. Es ist kein Zufall, dass die Franken nach zwölf Spielen noch keinen Sieg errungen haben und damit nicht nur in der Bundesliga, sondern im Vergleich der fünf großen europäischen Ligen eine schmerzhafte Sonderstellung einnehmen. Keine andere Mannschaft sonst ist da noch ohne Dreier.

Es gibt aber auch ein Leben hinter der Statistik. Und das füllt der Club immer mehr mit einem durchdachten Plan aus. Verbeek hielt seine erste Pressekonferenz in Nürnberg nicht nur als neuer Trainer des FCN ab. Er positionierte sich sogleich als autoritäre Respektsperson. Verbeek hatte den Vorteil, dass ihm ein gewisser Ruf vorauseilte: Er sei über die Maßen kompetent, aber auch knorrig und im Umgang nicht immer ganz einfach.

Respektsperson Verbeek

Sein Vorgänger hatte keinen Ruf. Michael Wiesinger hatte ein Image. Wiesinger ist in Nürnberg seit zwei Dekaden bekannt, startete als Spieler beim Club seine Profikarriere, war danach Trainer bei der U 23 und später bei den Profis. Jeder kannte Wiese und seine Art.

Das kann ein Vorteil sein, wenn man etwa einen kurzen Draht zur Mannschaft, zu den Entscheidungsträgern oder den Fans aufbauen will. Am Ende seiner Zeit in Nürnberg wurde dies aber für Wiesinger eher zur Belastung. Fordernde Nachfragen aus der Mannschaft und von Teilen der Medien untergruben die Autorität.

Als Verbeek seine ersten Sätze sprach, lauschte der Saal aufmerksam. Der Neue hatte schließlich Neues zu erzählen. Und am Ende traute sich niemand, allzu nassforsch nachzufragen. Verbeek hat sich seit seinem Antritt Mitte Oktober noch keinen Tag Pause gegönnt. Dafür gibt es zu viel zu tun.

Gravierende Veränderungen am Spielstil

Verändert hat sich seitdem eine ganze Menge. Verbeek kommt weniger über die Motivationsschiene, er bastelt an den handwerklichen Dingen, die einem Trainer zur Verfügung stehen. Er richtet seine Mannschaft risikoreich aus, lässt den Club aggressiv nach vorne verteidigen, hat die Mannschaftsteile enger zusammengezogen.

Vor ein paar Wochen gab es eine Auflistung, wie hoch die Viererketten der 18 Bundesligisten verteidigten. Gemessen am Abstand vom eigenen Tor wies Nürnbergs Abwehrreihe den niedrigsten wert auf. Der Club belegte damit den letzten Platz.

Verbeek dreht nicht das komplette Konzept auf links, aber positioniert seine Viererkette ein paar Meter weiter Richtung Mittellinie. Das ist die eine sichtbare und immer wiederkehrende Veränderung. Eine zweite ist ein grimmiges Angriffspressing tief in der gegnerischen Hälfte. Ein klares Muster war in den drei Spielen nicht auszumachen. Vielmehr passte der Trainer den Stil seiner Mannschaft immer klar dem Gegner an.

Club betreibt enormen Aufwand

Sehr auffällig wurde dies am Wochenende in Mönchengladbach. Da liefen Nürnbergs Offensivspieler die vier Verteidiger der Gastgeber in höchstem Tempo an, selbst nach dem nur zu oft erfolgten Rückpass zu Torhüter Marc-Andre ter Stegen wurde auch der sofort unter Druck gesetzt. Anders als gegen Stuttgart oder im Heimspiel gegen Freiburg wurde der Gegner nicht viel gelenkt. Er wurde schlicht permanentem Stress ausgesetzt.

Das bringt öfter einen frühen Ballbesitz, das bringt einen technisch hervorragenden Spieler wie Hiroshi Kiyotake schneller näher zum Tor und produziert somit zwangsläufig mehr Torchancen. Es birgt aber auch einige Gefahren. Emanuel Pogatetz und Per Nilsson sind nicht die beiden schnellsten Innenverteidiger. Ein Durchbruch des Gegners gegen die aufgerückte Abwehrreihe wird fast immer gefährlich.

Der läuferische Aufwand, den der Club betreiben muss, ist enorm. Gegen Gladbach legte die Mannschaft 128 Kilometer Laufstrecke zurück, die Spieler absolvierten 755 intensive Läufe und 236 Sprints. Das alles in der Mehrzahl ohne Ball, am Ende kam Gegner Gladbach auf 60 Prozent Ballbesitz. Die schnellere körperliche Ermüdung ist programmiert.

Nürnberg gestaltet jetzt aktiv

"Wir haben noch zu tun - aber wir sind auf einem guten Weg", sagte Verbeek nach dem 1:3 in Mönchengladbach. Er hat den Club als Hort abenteuerlicher Absurditäten schnell kennengelernt, die letzten beiden Spiele in der Bundesliga sollten ihm ein mahnendes Beispiel sein.

Nach den beiden besten Saisonleistungen ist Nürnberg jeweils ohne Punkt geblieben. In Gladbach kam so ziemlich alles Negative auf einmal zusammen, die Woche davor gegen Freiburg erwischte Torhüter Oliver Baumann einen Sahnetag und hielt insgesamt 16 Torschüsse - rund die Hälfte davon aus der Kategorie "Großchance". Aber nicht in jedem Spiel wird das Schicksal dem Club übel mitspielen oder der gegnerische Torhüter einen Saisonrekord aufstellen.

Nürnberg ist mittlerweile in der Lage, eine Partie aktiv zu gestalten. Und nicht mehr nur zu verwalten oder zu reagieren. Das ist ein enormer Fortschritt, auch für einen Abstiegskandidaten. Am Ende geht es um die eigene Leistung. Und die gibt Grund zu vorsichtigem Optimismus.

Favres Mönchengladbach als Vorbild

"Viele sehen nicht, wie gut sie sind", sagte Lucien Favre nach dem Erfolg seiner Mannschaft über den FCN. Dem Schweizer war es sichtlich unangenehm einen Sieg zu erklären, der gemeinhin als kaum verdient bezeichnet werden konnte. Alle fünf Heimspiele hatte die Borussia in dieser Saison teilweise haushoch gewonnen - und wurde von den Gästen aus Franken dann eine Stunde lang praktisch an die Wand gespielt. Also packte Favre in seine Ausführungen eine ganze Reihe dicker Komplimente an den Club.

Die verlorenen Punkte bringt auch Favres Lobhudelei nicht mehr zurück. Aber sie gibt den Verantwortlichen, den Spielern und den Fans vielleicht auch von neutraler Seite ein gutes Gefühl mit auf den Weg. "Das Gefühl, bei Gertjan Verbeek aufgehoben zu sein", wie es Manager Martin Bader formuliert.

Und vielleicht gibt ein verschmitzter Blick auf die Geschichte des letzten Gegners noch mehr Grund zum Optimismus. Borussia Mönchengladbach hatte im Winter 2011 die eine überlebenswichtige Idee, sich mit Lucien Favre einen überragenden Fachmann zu angeln. Gladbach hatte damals nach 22 Spielen nur magere 16 Punkte auf dem Konto, war Letzter und hatte sieben Zähler Rückstand auf das rettende Ufer.

"Ihr steigt nie, nie, nie, nie ab"

Das Ende ist bekannt. Heute ist die Borussia hinter dem enteilten Trio Bayern, BVB und Bayer die beste Mannschaft vom Rest der Liga.

Natürlich ist eine derart fantastische Geschichte für den 1. FC Nürnberg kaum zu erwarten. Als Anschauungsbeispiel darf sie aber trotzdem dienen.

Mit einem starken Trainer ist so einiges möglich. Auf jeden Fall schon mal der Klassenerhalt. Das sieht auch Favre so.

Nach dem Spiel am Samstag eilte er von Nürnberger Spieler zu Spieler und rauschte auch bei Bader vorbei. Favres Prophezeiung gilt es für den Club ab sofort zu beweisen: "Ihr steigt nie, nie, nie, nie ab!"

Das ist der 1. FC Nürnberg