Mehr als nur eine Kontermannschaft

Von Gunnar Göpel
Hannover 96 beendete die Saison 2012/2013 als Tabellenneunter
© getty

In den Tagen vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison stellt SPOX alle 18 Klubs in einer Vorschau-Serie vor - mit allen Transfers, Hintergründen und der Saison-Prognose. Diesmal: Hannover 96.

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Die Roten wollen zurück nach Europa. Trainer Mirko Slomka und Sportdirektor Dirk Dufner trennten sich von einigen alteingesessenen Leistungsträgern. Die Neuverpflichtungen sind allesamt jung und gierig auf den Erfolg. Nach zurückhaltenden Zielsetzungen in den letzten Jahren, hat Hannover 96 dieses Jahr deutlich die Zielsetzung "Europa League" ausgegeben. Dafür wurde die Mannschaft vielseitiger und variabler aufgestellt.

Das ist neu

Die gravierendste Veränderung im Verein ist ohne Frage die deutliche Personalrotation. Elf Abgängen stehen neun Neuzugänge gegenüber. Mit Almir Kasumovic, Deniz Kadah und Ali Gökdemir wurden drei Spieler für die Kaderbreite und die Local-Player-Regelung mit Profiverträgen ausgestattet. Auf den ersten Blick sind die einzigen Neuzugänge von Bedeutung Salif Sane (22 Jahre), Edgar Prib (23) und Leonardo Bittencourt (19).

Mit der Verpflichtung des Fürther Allrounder Edgar Prib und dem Abgang von Sergio da Silva Pinto wird einerseits Druck auf den seit fast zwei Jahren formschwachen Manuel Schmiedebach im defensiven Mittelfeld ausgeübt. Andererseits plant Mirko Slomka mit dem 2,5-Millionen-Einkauf offenbar auch auf der Spielmacherposition in einem möglichen 4-2-3-1.

Mit Leonardo Bittencourt konnten die Roten einen technisch guten Mittelfeldallrounder für sich gewinnen. Der U-20-Nationalspieler konnte bei Dortmund erste Bundesligaluft schnuppern, kam aber nur auf fünf Einsätze. Trainer Mirko Slomka gegenüber der "Sport Bild": "Leo ist jung, an ihm haben wir längerfristig Freude. Ihn müssen wir mit Fingerspitzengefühl fördern." Ein Stammplatz wurde dem 19-Jährigen nicht versprochen.

Während die neuen Spieler einen Altersdurchschnitt von 21,3 Jahren aufweisen, verliert die Mannschaft an Erfahrung. Die Abgänge um die gestandenen Profis Sergio da Silva Pinto (32, UD Levante), Mario Eggimann (32, Union Berlin), Mohammed Abdellaoue (27, VfB Stuttgart), Sofian Chahed (30, Vereinslos) und Konstantin Rausch (23, VfB Stuttgart) hinterlassen eine Erfahrungslücke von 720 Bundesligaspielen.

Zum großen Aufsteiger könnte der 17-jährige Valmir Sylejmani werden. Der Deutsch-Albanier aus der U19 der Roten trainiert seit diesem Somer offiziell mit den Profis und ist einer der Gewinner der Saisonvorbereitung. Sollte der U-17-Nationalspieler einen Profivertrag unterschreiben, dann wäre Sylejmani auch für die Bundesliga spielberechtigt. Dass der Offensivspieler torgefährlich ist, hat er in den Testspielen bereits bewiesen. Beim 16:1-Erfolg gegen SV Quitt Ankum traf er beispielsweise fünf Mal.

Die Taktik

Das große Plus der Mannschaft: Mirko Slomka kann durch die Neuzugänge variabler agieren und reagieren. Das neu zusammengestellte Personal lässt verschiedene Aufstellungen zu, egal ob 4-2-2-2, 4-2-3-1 oder die klassischen Raute. Gegen die stärksten Gegner dürfte Mirko Slomka auf seine bekannte Zehn-Sekunden-Regel setzen. Von Balleroberung bis zum Torabschluss soll ein Spielzug maximal zehn Sekunden dauern. Der Konterfußball funktionierte vor zwei Jahren exzellent - inzwischen hat sich die Konkurrenz darauf eingestellt. Sobald die Mannschaft das Spiel machen musste, wussten die Hannoveraner mit dem Ballbesitz zumeist wenig anzufangen und gerieten in Probleme. Das neue Credo lautet folglich: Selbst spielen statt zusehen und abwarten!

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Auffällig wurde diese spielerische Unterlegenheit, als Lars Stindl fast fünf Monate aufgrund eines Syndesmosebandanrisses verletzt fehlte. Diese Abhängigkeit ist durch die breitere Personaldecke deutlich eingedämmt. In den Testspielen probierte Mirko Slomka folgende Variante: Huszti rückte ins linke Mittelfeld, Bittencourt ging auf rechts. Die plötzlichen Seitenwechsel der beiden Außenspieler funktionieren bereits recht gut und sorgen für eine schwer auszurechnende Offensive.

Nach dem Abschied des norwegischen Nationalstürmers Abdellaoue liegt die Verantwortung im Sturm ein Stück mehr bei Mame Diouf. Der Senegalese, letzte Saison zwölf Treffer und sieben Vorlagen, ist nicht der klassische Konterstürmer vom Typ Abdellaoue. Ein Umdenken in der taktischen Grundausrichtung zu mehr Ballbesitz ist denkbar. Ein Mittelfeld aus Lars Stindl, Szabolcs Huszti, Edgar Prib und Leonardo Bittencourt verfügt über die technischen Möglichkeiten, den eigenen Ballbesitz kontrolliert in sinnvolle Entscheidungen fließen zu lassen. Die Vorgabe, den Ball nach einem Ballverlust innerhalb von fünf Sekunden zurückzugewinnen, bleibt bestehen.

Salif Sane soll die wackelige Defensive stärken. 62 Gegentore fingen sich die Niedersachsen in der letzten Saison - die drittmeisten der Liga. Der 22-jährige Neuzugang von AS Nancy-Lorraine ist mit seinen 1,96 Meter eine richtige Kante in der Innenverteidigung. Der 2-Millionen-Einkauf hat sich in der vergangenen Saison als bester Zweikämpfer der Ligue 1 für die Bundesliga empfohlen. Der Senegalese verfügt über ein exzellentes Kopfballspiel und lebt von seiner Physis.

Trotz seiner Größe wirkt Sane im Spielaufbau nicht hölzern und könnte auch im defensiven Mittelfeld auflaufen. Das ist nach dem Wechsel von Johan Djourou nach Hamburg aber eher unwahrscheinlich, denn es gilt eine Lücke in der Abwehr auszufüllen. Zudem drängt der deutsche U-20-Nationalspieler Andre Hoffmann in die Stammelf.

Sane bringt einen weiteren wichtigen Aspekt in die Mannschaft: Torgefahr bei Standards. In den letzten zwei Jahren erzielten die Roten ein Gros ihrer Tore nach ruhenden Bällen. "Das wird eine große Herausforderung für mich, ich muss mich jetzt in einer Top-Liga beweisen, in der Bundesliga geht es physisch noch einmal ganz anders zur Sache", betonte Salif Sane im "Kicker".

Der Spieler im Fokus

Edgar Prib. Seine Verpflichtung steht zu Unrecht im Schatten des Bittencourt-Transfers. Auf den 23-jährigen Allrounder kommt unter Mirko Slomka eine tragende Rolle zu. Ob er letzten Endes im defensiven Mittelfeld oder in der Rolle des Spielgestalters auflaufen wird, Prib soll das Spiel prägen.

"Mit Edgar Prib erhalten wir einen flexibel einsetzbaren Mittelfeld-Allrounder, der bereits in Fürth seine besonderen Qualitäten nachweisen konnte.", äußerte sich Mirko Slomka bei der Vorstellung des in Jakutien geborenen Allrounders. Der neue Konkurrenzkampf im Mittelfeld sollte die Spieler anspornen. Vom Neuzugang aus Fürth verspricht sich der DFB-Pokal-Sieger von 1992 vor allem mehr Durchschlagskraft und Spielwitz.

"Der Trainer sieht Prib eher zentral", verriet Dufner der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". "Wir haben in der vergangenen Saison nicht so viele Tore aus dem Mittelfeld geschossen. Da würde uns etwas mehr Torgefahr guttun." Eine große Last liegt auf den Schultern des 23-Jährigen. Im Gegensatz zu Bittencourt, der in seiner ersten Hannover-Saison noch unter "Welpenschutz" steht, muss Prib direkt zu einer tragenden Säule werden.

Die Prognose

Um das ausgegebene Ziel Europa-League erreichen zu können, muss die gravierende Auswärtsschwäche abgestellt werden. Vier Siege und ein Unentschieden aus 17 Auswärtspartien ist deutlich zu wenig für die neuen Ansprüche der Roten. Die Punkteausbeute in der heimischen AWD-Arena, zur kommenden Saison HDI Arena, war durchaus beachtlich. Lediglich einen Punkt weniger als Borussia Dortmund holte das Slomka-Team auf eigenem Rasen.

Hannover braucht endlich Konstanz. In der letzten Saison verschenkten die Roten zu oft Punkte durch unnötige Fehler. Siegesserie? Fehlanzeige. Gewannen die Niedersachsen zwei Spiele in Folge, folgte in Spiel drei der unsanfte Fall zurück in die Realität.

Ob die verjüngte Mannschaft dem Anspruch "internationales Geschäft" gerecht werden kann, bleibt abzuwarten. Wahrscheinlicher ist, dass sich die Mannschaft erst nach einem holprigen Saisonstart fangen kann. Sollte Mirko Slomka sich für eine Abkehr vom eingespielten 4-2-2-2 entscheiden, dann könnte dies der Mannschaft neuen Schwung verleihen. Auch die neu zusammengestellte Innenverteidigung wird einige Partien brauchen, um das blinde Verständnis für Laufwege und taktische Ausrichtung zu entwickeln.

Trotz euphorischer Fans, hungriger Neuzugänge und neuer taktischer Möglichkeiten wird es mit einem Platz unter den ersten sechs schwierig. Realistisch ist eine Platzierung im Bereich der Plätze sieben bis neun.

Hannover 96 im Überblick