Oliver Kreuzer: Willkommen auf dem Drahtseil

Von Arne Behr
Tradition wird in Hamburg groß geschrieben: Oliver Kreuzer ist vor allem als Brückenbauer gefragt
© imago

Seit dem 11. Juni hat der Hamburger SV mit Oliver Kreuzer einen neuen Sportchef an Bord, der 47-Jährige hat seinen Transfer zum Teil aus eigener Tasche finanziert. Doch das Amt verlangt seinem Träger vor allem einen einzigartigen Balanceakt zwischen stolzem Traditionsbewusstsein und einer ungeheuren Sehnsucht nach Erfolg ab.

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In Stefan Hallbergs Stadionklassiker "Wer wird deutscher Meister? H-H-H-HSV!" gibt es eine dritte Strophe, die in zeitgenössischen Interpretationen zumeist ausgespart wird. Die geht so:

"Als Krohn der Große ging und Netzer kam, da sah es böse aus und der Verein ganz schön arm. So manches Mal ha'm wir ganz klar geführt und dann hat Kargus doch noch so ein Ding kassiert ... Vergesst die Angst, die mal war, der Sieg ist unser, na klar".

Hallberg war früher übrigens weder am HSV noch an Fußball im Allgemeinen interessiert, wie er mal in einem Interview gestanden hat.

Immerhin stammt der Text von Schlagerbarde Gunter Gabriel. Der kommt zwar aus Nordrhein-Westfalen, lebt aber seit vielen Jahren auf seinem Hausboot in Hamburg, seiner "Ehefrau". Im Sommer 1979, wenige Monate nach der Veröffentlichung des Liedes, wurden die Hamburger dann tatsächlich zum ersten Mal deutscher Bundesliga-Meister und die wenigsten werden sich damals an die Angst von früher erinnert haben.

Doch auch im Jahr 2013, gut 30 Jahre später, scheint die vergessene Strophe des immergrünen Gassenhauers, obwohl die handelnden Personen freilich nicht mehr dieselben sind, kaum an Aktualität verloren zu haben. Im Gegenteil thematisiert sie exemplarisch den ungelösten Konflikt zwischen Erfolgshunger und der Angst vor totaler Kommerzialisierung, der sich seitdem wie ein unsichtbarer Schleier über den Verein und seine Akteure gelegt hat.

Zirkus Krohn

Ende der Siebziger Jahre hatte man noch Angst vor "Krohn dem Großen", genauer Dr. Peter Krohn, von 1973 bis 1975 Präsident, danach bis 1977 Manager des HSV. Allerdings zettelte der promovierte Diplomkaufmann während seiner insgesamt vierjährigen Amtszeit auch eine wahre Kulturrevolution im altehrwürdigen Sportverein an.

Als zweiter Bundesligaklub nach Eintracht Braunschweig führte er die Trikotwerbung in Hamburg ein, die Saison 1976/77 bestritt der HSV in rosafarbener Heimkluft, um mehr Frauen ins Stadion zu locken. Im Rahmen der Aktion "Fans kaufen Stars" konnten die Stadionbesucher auf freiwilliger Basis zwei Mark mehr Eintritt zahlen, um über neue Spieler mitbestimmen zu dürfen.

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Krohn stampfte den Hafen-Cup aus dem Boden und veranstaltete Show-Trainingseinheiten mit Blaskapelle im Mittelkreis und allerhand Brimborium drumherum. Schon bald aber sprach man in Hamburg, ging es um den HSV, nur noch abfällig vom "Zirkus Krohn".

Totale Kommerzialisierung

Dabei hatte der selbsternannte "Unruhestifter", anders als es der Liedtext suggeriert, sowohl sportlich als auch wirtschaftlich großen Erfolg. Er sanierte den damals erheblich verschuldeten Klub, holte mit Kevin Keegan einen echten Superstar und läutete die erfolgreichste Zeit der Hamburger Vereinsgeschichte ein.

Und doch steht die Ära Krohn trotz aller Verdienste ihres Namensgebers für Entfremdung, Entwurzelung und die rücksichtslose Kommerzialisierung des HSV. In Hamburg scheint man seitdem geradezu hypersensibilisiert zu sein für derartige Tendenzen. Vor allem auch im Hinblick auf die späten Achtziger und Neunziger Jahre verbindet man Peter Krohn, der sich bis heute für den HSV engagiert, mit der großen Sause, der unweigerlich das dicke Ende folgt.

Der Elferrat

Ein dickes Ende steht auch Ernst-Otto Rieckhoff mal wieder bevor, dessen ist sich der 61-Jährige selbst vor der Ordentlichen Mitgliederversammlung am 2. Juni 2013 jedenfalls sicher. Denn was er an diesem Sonntag erneut anregen will, wird seit Jahren mit deutlicher, bisweilen harscher und unsachlicher Kritik zurückgewiesen. Rieckhoff wird für die Verkleinerung des Aufsichtsrates plädieren, ein Vorhaben, bei dem es um konkrete Personen und Positionen geht.

Der Aufsichtsrat, das ist eben jenes sonderbare Beratungs- und Kontrollgremiums des HSV, das seit seiner Gründung 1996 in ziemlich regelmäßigen Abständen negativ in die Schlagzeilen gerät. Illustre Persönlichkeiten der meist besseren Hamburger Gesellschaft bevölkern den elf- beziehungsweise zwölfköpfigen Rat, die Mitgliederanzahl wechselt von Zeit zu Zeit. Ahnung von Fußball ist zwar kein notwendiges Kriterium, aber echte Leidenschaft für den HSV, die sollte man schon mitbringen.

Unternehmer, Anwälte, Fanklubvorsitzende, Schauspieler oder ehemalige Stadionsprecher sitzen dort an einem Tisch, und genauso heterogen wie die Zusammensetzung des Rates sind auch die jeweiligen Ansichten seiner Mitglieder bezüglich dessen, was denn gerade das Beste für den HSV sei. Das muss nicht per se schlecht sein, stellt aber doch eine erhebliche Herausforderung und besondere Verantwortung für alle Beteiligten dar.

Leichen pflastern seinen Weg

Doch dieser konnte man ein ums andere Mal nicht gerecht werden. Stattdessen macht der Rat vor allem durch eine öffentlich lärmende, indiskrete und oftmals furchtbar prätentiöse Geschäfts- und Gesprächskultur auf sich aufmerksam, die nicht nur von der wenig zimperlichen Hamburger Medienöffentlichkeit höhnisch begleitet wird.

Offen zur Schau gestellt werden die verbissenen Grabenkämpfe der unterschiedlichen Interessengruppen, oft geht es mehr um persönliche Rachefeldzüge und gekränkte Eitelkeiten als um die Belange des Klubs. Die Liste der Unprofessionalitäten und Peinlichkeiten ist lang geworden mit den Jahren, damit verbunden aber sind zahllose wichtige Gespräche und Verhandlungen, die deshalb gescheitert sind.

"Unser HSV"

Wohl noch mehr als in allen anderen Vereinen der Bundesliga dreht sich in Hamburg alles um die Basis, auch in Bezug auf die wirklich wichtigen operativen Entscheidungen. Der HSV ist der einzige Bundeslist, bei dem noch wirklich demokratische Vereinsstrukturen vorherrschen, so fand auch eine Ausgliederung der Lizenzspielerabteilung bisher nie die erforderliche Mehrheit.

Als Reaktion auf die große Depression der Post-Netzer-Zeit und abenteuerliche Vorstandsexzesse in Traditionsvereinen wie Frankfurt oder Schalke ins Leben gerufen, sollte der Aufsichtsrat umgekehrt als eine Art Scharnier dienen, um den Klub vom normalen Fan bis zur Vorstandsetage zusammenzuhalten.

Im Rahmen der Ordentlichen Mitgliederversammlung am 2. Juni, auf der der Aufsichtratsvorsitzende Manfred Ertel auch offiziell Oliver Kreuzer als neuer Sportdirektor bestätigte, kam es also abermals zum Tagesordnungspunkt "Reformierung des umstrittenen Rates". Doch Rieckhoff, der noch vor einem Jahr nach heftiger Kritik beleidigt die Segel gestrichen und eine Abschaffung des gesamten Gremiums angeboten hatte, sollte sogar stehende Ovationen von den Mitgliedern bekommen.

Paradigmenwechsel?

Unter den Anhängern des HSV hieß es noch nie "der", sondern schon immer "unser" HSV, auch daher ist deren überwältigende Zustimmung zu den Reformplänen entsprechend hoch einzuordnen. Der in Kombination mit der Erwartungshaltung eines europäischen Spitzenklubs geradezu rührende Idealismus scheint zunehmend einer realistischeren Sichtweise auf die Vereinspolitik zu weichen.

Und dennoch: Seltsam bekannt hörte sich die Antrittsrede des neuen Sportchefs Kreuzer zwei Tage später in Hamburg an, als er von wirtschaftlicher Konsolidierung sprach, die aber natürlich nicht auf Kosten der sportlichen Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit gehen dürfe. Zudem wäre es schön, mal wieder die Meisterschale hochzuheben.

Vollmundige Worte, die man in Hamburg seit jeher schätzt, allen Erfahrungen der Krohn-Zeit zum Trotz. Aufgrund der vielen Nackenschläge der jüngeren Vergangenheit hat sich eine bemerkenswerte Toleranz und Genügsamkeit eingestellt. Enttäuschung? Sicher. Trauma? Realitätsferne? Vielleicht. Aber Resignation? Nein. Es ist schon bewundernswert, dass die leidgeprüften Hamburger das Träumen nicht verlernt haben.

Finanzielle Engpässe

Die 51. Bundesliga-Saison könnte für den HSV zu einer echten Schlüsselsaison werden. Nach dem Beinahe-Abstieg des Bundesliga-Dinos vor zwei Jahren hatte man vor der letzten Saison plötzlich Geld in der Hand, das eigentlich nicht da war, um Spieler zu kaufen, die den Zugang zu den europäischen Geldtöpfen sichern sollten.

Einmal mehr profitierte man vom nach wie vor hervorragenden Umfeld. Im Fall van der Vaart war es das Geld des HSV-Gönners Klaus-Michael Kühne. Der 76 Jahre alte Multimilliardär hat dem Verein zudem in Aussicht gestellt, die Rückbenennung der Imtech-Arena in "Volksparkstadion" zu finanzieren. Gerade vor dem Hintergrund der drohenden Sponsorenflucht ist das sicherlich ein überaus verlockendes Angebot, aber es wäre auch ein ganz besonderes Geschenk an die Fans.

Das Ziel ist immer Europa

Doch es gibt weitere Baustellen beim HSV, strukturell wie tagespolitisch, die keinen (weiteren) Aufschub dulden. Praktisch mit Dienstantritt wurde der neue Sportchef Kreuzer mit der Tatsache konfrontiert, dass sein bester Stürmer Heung Min Son nicht zu halten sein wird. Immerhin: Die erste Bewährungsprobe, den Kader zu ergänzen und punktuell zu verstärken geht der neue Mann mit Entschlossenheit an. Aus Basel kommt das vielversprechende Stürmertalent Jacques Zoua. Arsenals Innenverteidiger Johan Djourou scheint man, noch dazu zu sehr guten Konditionen, erfolgreich Hannover 96 ausgespannt zu haben.

Dortmunds Lasse Sobiech soll folgen und möglicherweise auch Routinier Roque Santa Cruz.

Ein wichtiges Thema wird aber auch die Jugendarbeit sein, die trotz des geplanten "HSV-Campus" dringend weiterer Impulse bedarf. Dafür hat Kreuzer seinen eigenen Talent-Scout aus Karlsruhe mitgebracht und mit Co-Trainer Roger Stilz einen Mann geholt, der sich in den niederen Regionen des Fußballs in Hamburg und Umgebung bestens auskennt. Der frühere Manndecker Kreuzer und Cheftrainer Thorsten Fink kennen sich ohnehin noch aus ihrer gemeinsamen Zeit bei Red Bull Salzburg und bei Bayern München.

Unabhängig von strukturellen Veränderungen jedenfalls braucht er in Hamburg vor allem eines: schnellen Erfolg. Oliver Kreuzer ist nach eigener Aussage passionierter Saunagänger, wenn er ein paar Stunden Zeit hat, kann er dort gut entspannen. Sollte es sportlich nicht so laufen wie geplant, und das Ziel des stolzen Traditionsklubs ist immer Europa, wird es schwer, die Balance innerhalb des Klubs aufrecht zu erhalten. Er muss liefern. Wenn nicht, dann kann es in der Medienstadt Hamburg sehr schnell sehr heiß werden.

Der Hamburger SV in der Übersicht